In der Stadt hat eine Bäckerei eröffnet, wo vorher schon zwei andere gescheitert sind. Erst gab es Bauarbeiten, dann lange ein Schild, daß bald was kommt, und jetzt ist da ein hipper Laden mit nichts als Brot, vier Sorten. Machen auf um halb zehn und zu, wenn alles verkauft ist.

Das Lädchen ist winzig; anderthalb Meter Theke, die Verkäuferin schenkt auch Kaffee aus, und in der Backstube dahinter werken junge Männer voller Elan. Man darf im Winter die Tür nicht offen halten, die Zugluft stört den Teig. Alles ohne Zusätze, es wird nicht immer gleich, aber übrig ist abends selten was.

Vor dem Laden immer eine Schlange, "wie in de deier Zeit": ein paar Väter mit Kinderwagen, sonst lauter Rentnerinnen. Die haben offenbar Geld, Zeit und Geduld. Die Verkäuferin, vor Piercings blitzend, erklärt das Sortiment: "… ein geiles Roggen, und hier haben wir noch das mit Saaten, das ist auch sehr geil …" "Des nehm isch", entscheidet sich die alte Dame, zahlt und zieht von dannen. Eine raus, eine rein, und Laib für warmen Laib leeren sich die Regale.

Auch ich trage mein Brot nach Hause, den Duft von früher in der Nase. Es bleibt drei, vier Tage frisch, man braucht nichts drauf. Ich hatte es ganz vergessen, solange ich keines hatte, aber: richtig gutes Brot ist ein richtig großes Glück.





In der Kantine treffe ich R, in der Nische für Mitarbeiter und Freunde des Hauses. Wir nehmen uns in den Arm. R ist dünn geworden, aber gebräunt, mit frischem Haarschnitt. Seit er kein Auto mehr fährt, wandert er weite Strecken zwischen den Ortschaften mit seiner Hündin, die nun unterm Tisch schläft.

Ich freue mich, ihn zu sehen. Mir geht's prima, grinst er und wird kurz ernst, nur die Birne ist scheiße.

Gerade ist F da, der Mann einer Mitarbeiterin, die heute keine Betreuung für ihn hat. F, ein grau-blonder Seebär mit Lachfalten um die sehr blauen Augen, war mal Ingenieur. Er ist schon länger krank als R. Mehrmals am Tag legt er sich für ein Stündchen hin. Dazwischen kümmert sich R um ihn, trinkt mit ihm Kaffee, stellt ihn Leuten vor, nimmt ihn mit auf Spaziergänge.

Beiden fallen oft die richtigen Worte nicht ein. Bei F sind die Lücken offensichtlich: wie alt sein Sohn ist? was er nachher macht? Er lächelt bedauernd. Also, das weiß ich nun wirklich nicht. Manchmal fängt er eine Geschichte an, die dann nach kurzer Zeit versiegt. In den Pausen kommt seine Frau vorbei und hilft ihm in die Jacke oder reicht ihm das richtige Besteck. Einmal äfft er giftig ihren Tonfall nach. Na hör mal, weist sie ihn milde zurecht, ich meckere doch gar nicht mit dir! Ach so, lacht F. Das muß man einem Dummen auch mal sagen.

Unterm Tisch erwacht die Hündin und klopft mit dem Schwanz auf den Boden. Als R sie noch nicht lange hatte, machte sie sich, wenn sie spürte, daß seine Aufmerksamkeit abdriftete, selbständig und lief zu anderen Leuten oder suchte den Boden ums Buffet ab. Jetzt bleibt sie in Rs Nähe, legt ihm immer mal wieder die Pfote aufs Knie, läßt sich streicheln und folgt ihm mit dem Blick, wenn er den Tisch verläßt. Mit F hält sie es genauso, einfach so, und der ist entzückt. Paß mal bloß auf, R, scherzt er, die klau ich dir.

Rs Erzählungen mäandern; immer wieder entschuldigt sich, daß er Wortfindungsstörungen habe. Dann wieder gelingt ihm eine schlagfertige Antwort, und alle am Tisch lachen. Nur F schaut vor sich hin und sagt leise: Ich versteh das alles nicht. Wie das hier funktioniert. Er weist in die Runde, auf die Kantine, auf die Welt. Da schiebt sich seitlich die Hundeschnauze auf sein Knie, und siehe da: für einen Moment ist alles gut.





T und ich wollen uns eben verabschieden, da stürmt brüllend ein Mann über den Marktplatz und auf uns zu, schimpft, daß der Speichel sprüht, ein Kruzifix in der Faust. T knurrt ihn an, er möge Abstand halten; das entfacht seine Wut erst richtig. Er fuchtelt mit dem Kreuz vor T herum, schreit und kreischt, ehe er weiterrennt. Wir sind verdattert; was war denn das? Italienisch? Wir haben kein Wort verstanden.

Eine kleine alte Frau mit Rollator bleibt bei uns stehen und erklärt entrüstet in breitestem Dialekt: so was hätt kein anständiger Mensch gesagt, was der gesagt hat; ihr Mann selig wär auch Piemonteser gewesen, das wär ihm nicht über die Lippen gegangen, so eine Schande … Im selben Moment rangiert ein LKW gleich neben uns, der Dieselmotor übertönt, was die Frau uns gerade wohlmeinend übersetzt, wir nicken freundlich und machen uns aus dem Staub.

Nun, wo er sowohl vor den Flüchen selbst als auch vor ihrer Übersetzung bewahrt geblieben ist, meint T, was soll jetzt noch passieren?, geht zur Post und schickt endlich sein Manuskript an die Agentur.





T schaut sich gern im Internet Reaction videos an: Leute filmen sich, wie sie Musik hören, die sie vorher nicht kannten. So ist T auf August Schram und die Videos von Little Big gestoßen, das hat sich schon mal gelohnt; aber, sagt er, früher, da hätt's das nicht gegeben. Freiwillig oder unfreiwillig: Alle hörten dasselbe Radio, sahen dieselben Sendungen mit denselben Starauftritten, summten die Top Ten mit.

Beim Fernsehen war es noch extremer. Wer die Vorabendserien nicht gesehen hatte, konnte auf dem Schulhof nicht mitreden. Ob man es nun mochte oder nicht: man kannte das Programm, schließlich gab es nur eines für die ganze Familie.

So hatte sich T als Halbwüchsiger Sachen angeschaut, erst aus Langeweile, dann, weil's ihn gepackt hatte: Kunst- und Dokumentarfilme, Klassiker, Oper, Theater, Stummfilme, alles. Einmal schaute er sich abends Solaris von Tarkowskij an, und seine Oma, häkelnd und ketterauchend und mit dem Opa schimpfend, guckte mit; irgendwann kritisierte sie: Ei, is des awwer dunkel, des is jo wie beim Fassbinder!

Die Vereinzelung des Medienerlebnisses, das immer feinere Aufspalten in Nischen und Ritzen, das kam mit dem Netz. Der gemeinsame Boden ist weg, sagt T. Das letzte, über das sich wirklich alle unterhalten können, ist das Wetter; und sogar das hat jetzt, je nach dem, wen man fragt, verschiedene Ursachen.





Im Ginkgo hinterm Haus hängt ein Meisenknödel, und den besucht jeden Tag ein Team aus Schwarzdrossel und Specht.

Der Specht hängt am Netz und pickt und bohrt die interessanten Dinge aus dem Fett; unten im Gras sammelt die Schwarzdrossel auf, was der Specht fallen läßt.

Man kann den Specht von allen Seiten betrachten, er hängt da wie ein Weihnachtsornament: weiße Brust, schwarzes Käppchen, rote Pluderhosen. Die Schwarzdrossel am Boden, ein Männchen, ist einfach nur schwarz; ich weiß aber, daß sie goldene Ringe um die Augen trägt.

Ob sich die beiden näher bekannt sind?