Gibt Städte, da legt der Finder im Schacht vergessenes Wechselgeld sogfältig oben auf den Automaten, ehe er sich selbst einen Parkschein zieht. Vermutlich ist auch viel über einen Ort zu sagen anhand dessen, was da in den Fundbüroregalen auf rechtmäßige Inbesitznahme wartet.

Kleine Freundlichkeiten, die für sich genommen die Welt nicht bewegen, sie aber heller machen. Mich entzückt so etwas: der Passant, der an einer Traube geparkter Fahrräder vorüberschlendert, umkehrt, bei einem Rad das brennende Rücklicht ausknipst und seinen Weg fortsetzt. Eine Kundin, die im Gemüseladen einer anderen mit Kleingeld aushilft, neinnein, nehmen Sie nur, das ist doch selbstverständlich. Menschen, die etwas für Unbekannte tun, ohne sich einen Vorteil zu erwarten: unberechenbar.

(Natürlich gibt es auch andere, wie den Dieb, der die Bücher auskippte, mitsamt dem Schild "zu verschenken", und den Pappkarton mitnahm. Da weiß man dann auch nicht so recht.)





Ich kann gut alleine sein ist nicht gleich ich bin gern allein. Manchmal: ich komm schon klar. Manchmal: laß mich in Ruhe.

Im Gespräch ist der ferne, vage Plan meist: wenn ich (irgendwann; vielleicht) jemanden gefunden habe ...; niemand scheint damit zu rechnen, allein zu bleiben. Vielleicht will man sich nicht öffentlich begnügen, sich nicht für einen hoffnungslosen Fall halten.

Alleinsein lernt sich anscheinend leichter, wenn man die Rahmenbedingungen in der Hand hat. Oder zumindest Gründe weiß.

Man wächst ins Alleinsein hinein; irgendwann ist es ein bequemes Gehäuse, aus dem man nur mehr schwer herausfindet. Im Tausch: das Gefühl, allein nicht richtig zu sein in einer Welt der Eingebundenen. Eine Grundsehnsucht.

Letztlich wohl Sehnsucht nach: gesehen werden. Berührt werden. Zwei Verben im Passiv, wo Alleinsein sonst überall Aktiv verlangt.

Ich verspüre wenig Neigung (und habe sicher kein Talent), Menschen vom Alleinsein zu befreien, deren Art zu leben das nun eben ist. Alleinsein braucht keine Rechtfertigung, finde ich. Sehnsucht auch nicht.





Es ist weit weg, und ich war dort nie; ich kenne nur die Bilder aus dem Lateinbuch. Und doch fühle ich mich, als hätte man mir etwas weggenommen.

Geschichte vernichten – sich selbst ein Bein abhacken und rufen: da seht ihr, wozu wir in der Lage sind! Das ist das eine. Das andere: woher nehmen sie das Recht zu dieser Zerstörung?, und der Kummer darüber, daß genau diese Frage völlig zwecklos ist, daß es niemanden gibt, an den man sie richten könnte.

Gefröstelt habe ich, als am Tag nach der Zerstörung der Palmyra-Artikel bei Wikipedia bereits im Präteritum stand. Immer aktuell, immer korrekt. Kein Toter bleibt auch nur sprachlich unter uns, wenn seine Zeit um ist, während unsereins noch nicht fertig ist damit, die Barbarei seiner Ermordung zu beklagen.





Zwar verläuft sich der Strom der Wanderer mittlerweile – Wispertalsteig, Lahn-Camino, Moselsteig, der etwas unglücklich benamste Ahrsteig: wandern kann man überall –, doch ähnelt der Rheinsteig an manchen Tagen einer Ameisenstraße. Man reiht sich ein in den bunten Treck, erkennt Hüte, Rucksäcke, Trikots wieder und wieder, grüßt sich irgendwann, und beim nächsten Mal gebt ihr ein aus.

Anders die Entgegenkommenden: jeden sieht man nur einmal, aber sie fallen mehr auf. Einige hört man von weitem schon, und während man auf dem Weg zur Seite rückt, schaut man sich an. Mindestens kurz.

Die Leute sind unterschiedlich höflich. Manchen merkt man an, daß sie eigentlich lieber allein hier wären. Das geht mir ähnlich: mein Territorium erweitert sich, wenn ich draußen bin; die Anwesenheit anderer empfinde ich als Störung: was machen die hier in meinem Urlaub!

Ich übe mich daher in Freundlichkeit: Treffe ich Einzelne, grüße ich. Bei Gruppen sage ich der ersten in der Schlange Hallo und dem letzten, denen dazwischen nicke ich nur zu. Auf schmalen Pfaden bleibe ich stehen und lasse Ältere, Ungeübte, Erschöpfte vorbei. Läßt jemand mich vorbei, bedanke ich mich. Zwei, drei Mal habe ich Hilfe angeboten, als mir das nötig schien.

Anders als die Angewohnheit, draußen keine Spuren zu hinterlassen, ist das eine Entscheidung gegen meinen eigenen Impuls, mich wortlos in die Büsche zu schlagen. Mein Verstand sagt mir: es geht nur freundlich mit den Menschen, und draußen zu Fuß unterwegs sind wir doch alle gleich.

(Radfahrer übrigens grüßen nie; die Ausnahme zu dieser Regel muß mir noch begegnen.)





Ich mag das: Menschen möglichst viel Raum in möglichst wenig Worten geben. Worte, die sich mit dem, was sie weglassen, zu erkennbaren Skizzen verdichten.

Dennoch gibt es Personen, die sich entziehen; bei denen ich mich scheue, auch nur den Anfangsbuchstaben ihres Namens zu notieren. Nicht aus Furcht vor Erkennbarkeit; eher um nicht etwas Schwebendes festzuschreiben. Oder: ihm nicht gerecht zu werden.

Mit manchen dieser Menschen beschäftige ich mich gedanklich, schriftlich und im Leben. Manche kommen sogar in meinen Textchen vor, doch ohne daß da wirklich etwas über sie stünde; nichts Greifbares, nichts Gültiges.

Einer, von dem ich nicht weiß, ob er sich von mir kennen läßt (und ob ich's überhaupt richtig versuche). Einer, nah und vertraut, bei dem ich schier verzweifle über all das, was ich noch nicht weiß. Eine, die ich so lange kenne, daß ich sie vielleicht gar nicht mehr richtig sehe. Einer, den ich gar nicht kenne; nur das Mitgefühl, das mancher seiner Sätze in mir weckt. Eine, über die ich immer noch nicht hinweg bin.

Nicht nah genug, zu nah, das scheinen gute Gründe für ein Stillschweigen. Und dennoch lauere ich darauf, doch irgendwann die Worte zu finden, die mehr sind als die halbe Wahrheit.