Das Mütterlein macht uns noch immer Kummer. Nichts hat sie ausgelassen; wir kennen jetzt alle Krankenhäuser der Gegend von innen.

In den ersten Wochen lag sie still und klagte: "Das hätte ich nie gedacht", wieder und wieder. Das Gefühl für Zeit und Reihenfolgen war weg; sie teilte das Zimmer mit Fernen und Toten und machte keine großen Unterschiede zu den Lebenden, die sich täglich dazwischensetzten. "Komisch", sagte sie immerzu. Nachts lag sie wach und grübelte, woher ihre Gedanken kämen: von ihren Tanten? den Großtanten? Von der Musik? oder doch vom Herrgott selbst?

Seit ein paar Tagen ist es nicht mehr so schwierig mit dem Essen, dem Trinken und den Behandlungen: "Na gut." Sie will wieder was, nämlich raus.

Neulich nachts klingelte mein Telefon, ihr war meine Nummer wieder eingefallen. Ich beruhigte sie nach Kräften – "Kannst du denn schlafen? Denk dir eine Herde Schafe, und dann zählst du sie."
"So schöne Tiere, aber Schafe hatten wir ja nie."
"Dann denk dir deine Gänse, die du als Kind gehütet hast, und zähl die."
"Die saßen immer um mich herum und knabberten mir am Zopf und am Kittel und den Armen, ganz zärtlich. Aber ... das waren doch bloß sechs."
"Reicht nicht zum Einschlafen, stimmt. Da mußt du dir mehr denken und sie dann zählen."
"Oh, das ganze Bett voller Gänse! Na gut."

Vielleicht, vielleicht wird es noch mal was.





Weiß und winzig liegt sie, kaum auszumachen unter den Decken gegen den Schüttelfrost, und klagt wie ein Kind: Ihr geht es gar nicht gut, der Kopf tut weh, und sie kann sich nicht erklären, wie sie hier gelandet ist. Sie weiß noch, daß sie beim Schwiegerenkel zum Essen wollten, aber nicht mehr, daß sie an der zweiten von drei Treppenstufen hängengeblieben, dem Gefährten aus dem Arm gerutscht und rücklings auf die Betonplatten geschlagen ist; der beschreibt später drastisch den Knacks, mit dem sie in Scherben ging.

Wie ein viel zu müdes Kind reißt sie immer wieder die Augen auf; fragt nach dem Gefährten; ob wir morgen alle zum Kaffee kommen; daß das so knirscht in ihren Ohren; und danke, danke für die warmen Decken.

Es ist, sagt man uns, ernst, aber nicht hoffnungslos. Diagnostik und Behandlungspläne, Medikation, kurz- und langfristige Maßnahmen, und erst mal die Feiertage. Derweil schaut sie von einem zum anderen, die Schönheit, die bei ihr um Stirn und Nase liegt, ist noch da und herzzerreißend.

Die Nachtschwester kontrolliert die Infusion und streicht ihr übers Haar. Wie gut, sagt B (noch ein Glück! selbst vom Fach), dass sie so eine niedliche Kranke ist. Da kümmern sich alle gern, und das kann sehr wichtig sein.

Als wir gehen, ist es still auf Station; im Licht der Monitore sehe ich durch den Türspalt, wie sie uns, wo sie doch längst schlafen sollte, hinterherwinkt.





An der Kamera, die ich seit Wochen nicht mehr finde, fehlt mir am meisten meine Bildersammlung kleinster Gärtchen in Pflasterritzen, Mauerlöchern und Gebäudefugen. All das Grün, ohne das ich nun durch den Winter muß.

Die USA haben sich also für den Faschismus entschieden. Welche Alliierten werden sie wohl befreien? Oder a good guy with a gun? Oder wollen sie sich am eigenen Zopf aus diesem Sumpf ziehen?

Was von meiner Welt das alles in den Abgrund reißt, kann ich mir gar nicht vorstellen. Noch.

Darauf, sprudelnd im Glase, eine Aspirin. (Hilft auch nichts gegen Kopfschmerz in Planetengröße.)





Der gotische Kreuzgang war immmer eine Zuflucht inmitten der Stadt gewesen, mit Rosen und Unkraut, mit Gebüsch und einem Brünnlein, in heißen Sommern kühl, still und schön. Vergangenen Winter war plötzlich Baustelle; Grundsanierung, erklärte mir ein Arbeiter, man hatte auch Müll und Kriegsschutt unter dem Gärtchen gefunden, das sollte weg, und alles ordentlich.

Ist es jetzt. Kirschlorbeer, Rollrasen, das Brunnenbecken frisch einbetoniert. Es riecht ein wenig wie Einrichtungshaus. Warum so tot und traurig, das sah ich erst auf den dritten Blick: das gesamte Geviert ist von einem himmelhohen Netz überspannt, kaum sichtbar, doch vogelfest; gelegentlich hängen ihre Kadaver darin. Macht euch das letzte bißchen Erde untertan: check.

Herrn E hätte das nicht gefallen. Er hat hier manchmal gearbeitet, und überhaupt sah ich ihn öfter in der Gegend; das letzte Mal, als er auf den Stufen vor der Apothekentür erschöpft Pause machte.

Wir hatten eine Grußbekanntschaft und wechselten Worte, wenn mal wieder die Feuerwehr die Straße sperrte; ich weiß, daß er malte, sich für Geschichte interessierte, daß er Mauerseglernester meldete und unter Schutz stellen ließ. Eine freundliche Präsenz, ein Verbündeter. Jetzt las ich: er ist gestorben, vor ein paar Wochen schon, und er fehlt mir mehr, als ich mir erklären kann.





Gründonnerstag. Der Gemüsebauer auf dem Markt erzählt, einige seiner Mitabiturienten hätten das Latinum erst im Medizinstudium erworben, zwei Semester durchgepaukt, aber nur die Nomen und Adjektive. Eine Sprache ohne Verben lernen, meint er, das sei so wie Führerschein ohne Lenken machen und hinterher behaupten, man könne fahren.

Karfreitag. Wandaufschrift: Fick dich ins Knie, Melancholie!

Ostersamstag im Großstadtcafé: rosa Blümchentapeten, alle Holztische mit denselben charmanten Fehlern, Schnörkeltörtchen und Zuckerzeug, und drübergekippt Hintergrundjazz, der die Stunden höhlt, die Seele korrodiert. Gefällige Klänge, in abgezirkeltem Dynamikumfang plätschernd ohne Punkt, ohne Komma, ohne Gnade. Da war mit Sicherheit kein Mensch involviert. Ich verlasse das Lokal milde verstört.

Zu Ostersonntag die Salmiakstange gefunden, die ich vor Wochen von M geschenkt bekommen und offenbar sehr gut vor mir versteckt habe. Ein Wunder.

Buchtip: "Die besten Beerdigungen der Welt", Endlichkeit für alle, auch die Kleinen.