Heute ist so ein Tag, an dem mich alle Entgegenkommenden grüßen. Vielleicht liegt es an meinem Jackett, vielleicht sehe ich heute jemandem ähnlich; vielleicht ist es, weil ich das Mütterchen dabei habe, das wohlgelaunt neben mir durch den Park spaziert: Frisur Typ lockere Sommerwolke, warm, aber zart frühlingsfarbig eingepackt und ganz Freundlichkeit und Wohlwollen; am winkenden Gruß hindert sie nur, daß sie den Rollator im Griff haben muß.

Man würde von ihr nichts Schlimmes denken, schon gar nicht, daß sie das ganze Heim rebellisch macht und zum Auszug zu überreden sucht. Ein Mitbewohner steckt es mir heimlich, und: ich (ich??) möge ihm nicht böse sein, aber er wolle lieber bleiben; das wäre ihm doch ein bißchen viel.





Das arme Schiff ist krank. Irgendwo regnet es rein, das Wasser fließt unter den Decksplanken irgendwohin und tropft in Kojen und in notdürftig aufgestellte Gefäße. Die Risse werden größer, die Leinen rauher, die Lenzpumpe muß öfter angeworfen werden, als man das gerne sieht. Ab Windstärke sechs muß das alte Ding im Hafen bleiben.

Und doch. Wir alle kommen wie nach Hause; es dauert eine halbe Stunde, sich einzuleben und zwei, zu vergessen, welcher Tag heute ist.

B-Wache. Alle sechs bis acht Stunden raus zur Arbeit; viele Hände halten das Schiff auf Kurs, Scherzworte fliegen, Gelächter, Kaffee, Bier, Sterne und Maschinenöl. Das Schaukeln des Schiffs ist der Atem dieser Woche.

Und dann ist die Reise vorbei, ein letztes Anlegemanöver, den Seesack gepackt, die Straße zum Bahnhof schwankt leicht: Die Zeit mit so vielen Menschen zieht sich zurück wie eine Welle vom Strand, und im dünnen Film Wasser, der die Füße umspült, spiegelt sich noch einmal alles, was war. Frohes, Schmerzliches und allerhand Verpaßtes. Salz wie in Schweiß und Tränen, wie in Sehnsucht, wie in Plänen: nächstes Mal! Nächstes Mal ganz sicher.

Sind ja nur zwei Jahre bis da hin.





R ist umgezogen, noch einmal, in ein Heim; es ging nicht mehr anders. Es ist das Richtige für ihn, sagt seine Schwester. Man merkt es, obwohl er nicht mehr spricht.

Sie hat seine Wohnung ausgeräumt und Zettel gefunden, die er schon vor einiger Zeit geschrieben haben muß. Wenn es ihm noch mal besser ginge, steht da, dann würde er wieder in die Firma kommen und sich darum kümmern, daß alle es gut haben. Und: Irgendwann wolle er in ein Heim, aber in eins, das er sich selbst aussuche. So hat er sie getröstet, rückwirkend getröstet für diesen Umzug.

Dann zeigt sie mir ein Handy-Video, auf dem er tanzt mit anderen Bewohnern, die Arme erhoben: Rhythmus, Schritte, alles da; er strahlt. Ihr kleiner Bruder.

So eine Scheißkrankheit, sagt sie, und was besseres weiß ich auch nicht.





Das Mütterlein macht uns noch immer Kummer. Nichts hat sie ausgelassen; wir kennen jetzt alle Krankenhäuser der Gegend von innen.

In den ersten Wochen lag sie still und klagte: "Das hätte ich nie gedacht", wieder und wieder. Das Gefühl für Zeit und Reihenfolgen war weg; sie teilte das Zimmer mit Fernen und Toten und machte keine großen Unterschiede zu den Lebenden, die sich täglich dazwischensetzten. "Komisch", sagte sie immerzu. Nachts lag sie wach und grübelte, woher ihre Gedanken kämen: von ihren Tanten? den Großtanten? Von der Musik? oder doch vom Herrgott selbst?

Seit ein paar Tagen ist es nicht mehr so schwierig mit dem Essen, dem Trinken und den Behandlungen: "Na gut." Sie will wieder was, nämlich raus.

Neulich nachts klingelte mein Telefon, ihr war meine Nummer wieder eingefallen. Ich beruhigte sie nach Kräften – "Kannst du denn schlafen? Denk dir eine Herde Schafe, und dann zählst du sie."
"So schöne Tiere, aber Schafe hatten wir ja nie."
"Dann denk dir deine Gänse, die du als Kind gehütet hast, und zähl die."
"Die saßen immer um mich herum und knabberten mir am Zopf und am Kittel und den Armen, ganz zärtlich. Aber ... das waren doch bloß sechs."
"Reicht nicht zum Einschlafen, stimmt. Da mußt du dir mehr denken und sie dann zählen."
"Oh, das ganze Bett voller Gänse! Na gut."

Vielleicht, vielleicht wird es noch mal was.





Weiß und winzig liegt sie, kaum auszumachen unter den Decken gegen den Schüttelfrost, und klagt wie ein Kind: Ihr geht es gar nicht gut, der Kopf tut weh, und sie kann sich nicht erklären, wie sie hier gelandet ist. Sie weiß noch, daß sie beim Schwiegerenkel zum Essen wollten, aber nicht mehr, daß sie an der zweiten von drei Treppenstufen hängengeblieben, dem Gefährten aus dem Arm gerutscht und rücklings auf die Betonplatten geschlagen ist; der beschreibt später drastisch den Knacks, mit dem sie in Scherben ging.

Wie ein viel zu müdes Kind reißt sie immer wieder die Augen auf; fragt nach dem Gefährten; ob wir morgen alle zum Kaffee kommen; daß das so knirscht in ihren Ohren; und danke, danke für die warmen Decken.

Es ist, sagt man uns, ernst, aber nicht hoffnungslos. Diagnostik und Behandlungspläne, Medikation, kurz- und langfristige Maßnahmen, und erst mal die Feiertage. Derweil schaut sie von einem zum anderen, die Schönheit, die bei ihr um Stirn und Nase liegt, ist noch da und herzzerreißend.

Die Nachtschwester kontrolliert die Infusion und streicht ihr übers Haar. Wie gut, sagt B (noch ein Glück! selbst vom Fach), dass sie so eine niedliche Kranke ist. Da kümmern sich alle gern, und das kann sehr wichtig sein.

Als wir gehen, ist es still auf Station; im Licht der Monitore sehe ich durch den Türspalt, wie sie uns, wo sie doch längst schlafen sollte, hinterherwinkt.