Auf den letzten hundert Metern verengt sich die Bahn und zwingt die Finalisten in eine Reihe. So können sie einzeln begrüßt, beklatscht und fotografiert werden. Ich klatsche und winke, als M nach genau der geschätzten Zeit vorüberspurtet; er hebt knapp die Hand. Wenig später sammle ich ihn ein. Er ist vollkommen erschöpft. Ziel erreicht.
M läuft zum ersten Mal in meiner Stadt. So kommt es, daß ich zum ersten Mal am Straßenrand stehe und jubele. Die plastiklastig-professionelle Organisation des Ganzen wundert mich nicht, eher schon die gute Stimmung bei allen, Läufern, Helfern, Zuschauern. Ich lasse mich anstecken und freue mich, als ich sehe, wie M auf der Strecke sich freut, als er mich am Straßenrand sieht.
Einige im Publikum schwenken Schilder: Genieß es, du hast dafür bezahlt!, oder: Umkehren wär jetzt auch blöd!, oder einfach: Du schaffst es!, und damit sind irgendwie alle Läufer gemeint. Konkurrenz gibt es unter vielleicht zwanzig, dreißig Sportlern, der Rest macht das, um's zu machen.
Auch die Läufer tragen ihre Gesinnung auf den Hemden. Farben, Schriftzüge, Firmenlogos, Teamnamen; angeknüpfte Ballons, verzierte Mützen, ganze Kostüme. Einer ist ohne Schuhe unterwegs, die Ballen mit Tape umwickelt.
In einer Tiefgarage ziehen die Läufer sich um, schmieren sich ein, justieren Technik und dehnen sich. Dann sucht jeder sein Startfeld und wartet in der Morgenkühle. Die Straße, sonst vierspurig für Autos, füllt sich mit bunten Menschen, die auf der Stelle hüpfen, Gymnastik und Selfies machen. M, frage ich, mußt du dich nicht auch, ich weiß nicht, aufwärmen? – Nö, das integriere ich in den Lauf.
Irgendwann Musik über Lautsprecher (Highway to Hell), Ansagen, Moderation, ein Countdown. Nichts passiert, aber jetzt sind alle still und schauen in eine Richtung. Dann macht das gesamte Feld einen Schritt nach vorn, einen nur, und die Spannung springt über die Absperrungen und erfaßt auch das Publikum. Letzte Anweisungen und Grüße werden gerufen, Kameras gezückt; dann bewegen sich die Läufer. Schrittempo. M lächelt noch einmal herüber. Schneller geht es, einige hinter den Absperrungen gehen mit, winkend, wie einem abfahrenden Zug hinterher.
Ich verfolge, wie M Blick und Kräfte sammelt und nach vorn richtet, auf das 42 Kilometer entfernte Ziel. Er löst sich von der Straße, von der Stadt um ihn herum, löst sich von Tageszeit und Temperatur, löst sich von allem; er fällt in Trab, ich sehe, wie seine Schulterblätter sich gleichmäßig im Laufrhythmus bewegen, und fort ist er, ganz für sich zwischen Tausenden von anderen, wie davongeflogen.
Es war einmal ein Zivi, der pflegte eine alte Frau, die war taub und blind und in jedem wachen Moment überzeugt davon, sie sei in der Hölle. Egal ob er sie fütterte, streichelte, zudeckte, sie verfluchte ihn, er sei ein Teufel und solle sie nicht länger quälen ... Das ist die schlimmste Geschichte, die ich kenne; aber selbst die kann T nicht aufheitern im Moment.
Als er sich am Ende vom Kaffee umschaut, meint er, er könne wahrhaftig an diesem Platz, Sonne, Blick übers Wasser, Miniaturblätter an den Platanen, nichts auszusetzen finden; das ist was, immerhin.
Und du, was machst du gerade so?
Ach, was schön Warmes für den Winter.
Die Industriestadt blüht. Schöner wird's nicht. Was die letzten Stürme an Bäumen stehen gelassen haben, bekommt frische Blätter; ich bestaune jedes einzelne. Die Bergarbeiterhäuschen, alter Backstein, weiße Fensterrahmen, sehen zwischen Kirschen aus wie schwedisches Idyll. Stoisch räumt ein Stadtarbeiter Müll aus den Büschen, in denen Vögel ihr Revier besingen.
Eine Frau gibt es in der Firma, erzählt man mir, die trägt jeden Tag andere Schuhe, immer aber hochhackige, mit denen sie durch Treppenhäuser und Gänge klackert. Das gönne man ihr ja, und es sei auch wirklich ganz egal, was Leute so anzögen, wär's bloß nicht so'n verdammter Radau.
Gern sehe ich die brutalistische Kirche mit integriertem Gemeindezentrum; wie eine Reihe geschliffener Betonsplitter steckt sie in der Stadtlandschaft. Heute weht aus einer ihrer Fensterhöhlungen ein grellrotes Kleid.
Durchsage: Wir möchten Sie auf unseren gastronomischen Service aufmerksam machen. Aufgrund technischer Schwierigkeiten hat unser Bordbistro momentan nichts zu essen und nichts zu trinken. Der ganze Zug lacht.
Die Strecke liegt zwischen Kirschen und Weißdorn, man möchte die Notbremse ziehen und ein wenig hinaus.
M und ich teilen eine Marotte: nach dem Essen alles möglichst bald wieder aufzuräumen. Zuschrauben, zusammenstellen, stapeln, einwickeln, wegtuppern. Besondere Zufriedenheit schaffen möglichst passende Behältnisse oder mehrere Dinge, die sich in eines fügen. Gemütlich ist für uns, was bei anderen ungemütlich heißt.
T und ich ernten wieder Blicke, als er den Cafétisch freiräumt (also, das ist jetzt oval) und mir mithilfe von Zuckerstreuer, Löffeln, Väschen, Krims und Krams Pitch und Wicker, Infield, Outfield, Boundary, Bowler, Batsmen und Keeper erklärt. Er liebt an diesem Sport vor allem die Berichterstattung und die Skandale; ich, daß in Weiß und mit Pullunder gespielt wird nach Regeln und Maßen, die ich mir niemals werde merken können.
M, sage ich, du kennst bestimmt den Drang, wenn man das Füllgut aus einer Tüte genommen hat, die Tüte möglichst knapp wieder zuzumachen und passend abzuschneiden? – Was?? Nein. Wirklich, du bist schlimmer als ich.
Nach einem Abend voller Gespräche über Craftbeer, Älterwerden, Erkältungsstadien, Sportwagenfahrverhalten, Hundefriseure, Krankheiten, Teppichmoden und Tapenadenrezepte singt, knapp außerhalb des Scheins der Tankstelle und den Verkehr wie Stille übertönend, eine Nachtigall.