Der Löwe hat alle vier Tatzen, vier perfekte Katzentatzen im Gigantenformat, an die Scheibe gedrückt. Er schläft; gelegentlich zuckt ein Bein, oder ein Ohr wendet sich nach etwas Erträumtem. Während die Zoobescher ihre Kameras auf ihn gerichtet halten, wird der Löwe lange genug wach, um sich mit minimalem Aufwand hinter einen Baumstamm zu wälzen; dann schläft er, unbehelligt von Blicken und Objektiven, weiter.
Mein Lieblingstier in diesem Zoo ist ein halbwüchsiger Bonobo. Während wir sein Geschwisterchen beim Kletterunterricht beobachten (süüüüß!), erklimmt er das Netz oberhalb der Scheibe, zielt und pinkelt mit Schwung in die Besuchergruppe. Wir machen eilige Ausfallschritte, aus der Höhe von ihm beäugt.
Mir fällt der Gorilla in Hellabrunn ein, der, als eine Traube Besucher an die Scheibe des Geheges drängte, sich mit Anlauf und voller Wucht von innen dagegenschmiß. Die Leute schrien, stoben auseinander, einige landeten auf dem Hintern; der Gorilla zog sich in einen abgelegenen Teil des Geheges zurück, als wäre nichts gewesen. Ziemlich exakt nach der Zeit, die es braucht, bis so eine Besuchergruppe komplett ausgewechselt ist, nahm er wieder Anlauf ...
Es ist schließlich nicht einzusehen, warum die Zooinsassen bloß uns was bieten sollten.
Die Hölle, die trägt man untenrum.
In die alte Heimatstadt fahre ich immer noch mit einem Phantomschlüssel in der Tasche; dabei ist die Wohnung natürlich längst neu vermietet. Andere Läden in der Straße (keine Verbesserung), die Bäume kränkeln, ein bißchen schäbig sieht es aus. Das habe ich früher wohl liebevoll übersehen.
Unterschlupf finde ich bei M.s im Geschäft. Er ist gebeugter als beim letzten Mal, sie so zart geworden, man schließt die Ladentüre mit Behutsamkeit. Die Angestellten sind jetzt allesamt in Rente. Ich bekomme Kuchen, ein Weihnachtsgeschenk und die Neuigkeiten. Sie seien jetzt eine Sehenswürdigkeit: junge Leute brächten ihre Eltern her, um ihnen dieses Geschäft zu zeigen.
Fragen, wie es ihnen geht, weichen sie elegant aus, aber ich kann es mir denken. Ich leiste mir ein paar wunderschöne Dinge und wünschte, ich bräuchte mehr.
Auf dem Heimweg, der sich erst ab der Mitte wirklich wie Heimweg anfühlt, lese ich: Gottfried Keller, Sieben Legenden. Eine Zumutung.
Ich dachte, ich könnte ganz gut auch ohne leben. Nun warte ich aber seit Wochen auf blauen Himmel, darauf, daß die Fassaden gegenüber aufstrahlen; dann schlüpfe ich in den Mantel. In der letzten Zeit nutzt das nichts: die Wolkenlücken zu schmal, die Straßenschluchten zu tief.
Im Wald, beim zugigen Imbiß auf einem Stapel Holz, bestand mein Hirn darauf, in den Holzfällerzeichen auf den Stämmen in Neon-Orange Lichtflecken zu sehen, zusammen mit einigen verblichenen Buchenblättern am Boden und einem faulenden Ast. Jedes Mal, wenn ich mit den Gedanken anderswohin schweifte, hüpfte mir kurz das Herz: Sonne! – Ach nee, Markierungsfarbe.
Und das Beste an der Wanderung? Ich habe, fast eine halbe Stunde lang, schließlich doch einen Schatten geworfen.
Ärgerliche Tage in der ärgerlichen Stadt; aber man kann sich's nicht aussuchen. Ein Schönes gab es dann doch für mich: die Fenster zwischen den U-Bahn-Waggons, quadratisch mit gerundeten Ecken, und wie sie sich gegeneinander verschieben in den Kurven; meins wackelt immer eine Winzigkeit früher als das dahinter. Fern hinter zweifach Glas das Innere des nächsten Wagens, wie ein Aquarium oder wie die Szene eines Films. Die Akteure führen Pappbecher zum Mund, unterhalten sich ohne Ton und sind ganz mit sich und ihren Telefonen beschäftigt; bloß ein Kleinkind am unteren Rand der Scheibe guckt zurück.
Auf der Heimfahrt: draußen Schneewälder, innerlich Aufatmen.
Im letzten Regionalzug, da ist die Landschaft schon wieder matschig wie gewohnt, stempelt die Kontrolleurin meine Rückfahrkarte ab und sagt: Willkommen zuhause!