Beim kleinen Schuster habe ich nicht genügend Bares dabei für die schwarzen Schuhe. Macht nichts, sagt er, nehmen Sie sie mit und bringen Sie das Geld die Tage. Er weiß meinen Namen nicht und nur, daß ich irgendwo hier wohne. Er macht sich nicht einmal eine Notiz (wie auch, mit Leim an den schwarzen Händen). Als ich am nächsten Tag meine Schuld begleiche, nickt er nur; auf Wiedersehen!
Auf dem Markt sagt der Ziegenbauer auf die Frage: ist Ihr Käse wieder so gut wie der letzte? einfach: Nein. Ohne Entschuldigung, ohne Vertröstung, ohne auch nur ein bedauerndes Lächeln.
Der Kartoffelbauer hört auf. Nicht gern, aber er muß sich mal zur Ruhe setzen. Wo bekommen wir denn dann die guten Kartoffeln her? Außer Ihnen baut niemand hier die alten Sorten an. Er schiebt die Mütze in den Nacken und kratzt sich am Kopf. Den jungen Mann, der das alles übernimmt, den versuche er auf Linie zu bringen. Aber wer weiß schon, was der junge Mann draus macht?
Besuch bei H., der Witwe, mit einem Korb Lebensmittel. Auf C.s Beerdigung war sie Mittelpunkt, gefaßt, geradezu strahlend; wie sie das immer macht. Ich kenne sie besser. Man möchte ihr eine Decke bringen und ihr sagen, daß alles gut wird, auch wenn das nicht wahr ist.
Im Spiegel kann ich nichts Auffälliges entdecken, aber die Entgegenkommenden in der Stadt und die Leute in den Läden schauen mich scheu an. Zweidreimal wünscht man mir eine gute Zeit, mit Nachdruck. Irgendwas scheine ich aus der Klinik mitgenommen zu haben, das mir eigentlich nicht gehört.
T. schreibt: Bier oder Kaffee, klar. K. fragt, ob wir mal wieder was machen sollten. M. sendet mir Geschichten. H., so zupackend, weiß, wenn man nicht zupacken kann, nicht, wohin mit seinen Händen.
Wird schon gehen, alles.
Herr, lehre doch mich, daß ein Ende mit mir haben muß, daß mein Leben ein Ziel hat und ich davon muß.
Ich bin miserabel in Abschieden. Jetzt, jetzt steht einer bevor, vor dem habe ich Angst, und das bedeutet noch am allerwenigsten.
Ach.
Heute finde ich C. wach vor, aber es hilft nichts. Ich mag meine Stimme nicht erheben (der Mitpatient); C. hört schwer. Er liegt und schaut und denkt nach, die Worte wollen sich nicht mehr fügen. Wir können uns nicht verständigen, bringt er schließlich hervor; und: doch, das macht etwas.
Als ich gute Nacht sage, antwortet C.: In alle Ewigkeit.
Wie er versucht mich zu trösten und meine Finger um seinen alten Strickteddy schließt. Meine Hand, die neben seiner dick und rot und gesund aussieht.
Am Abend sagt C. plötzlich klar und deutlich: Brave Mädchen dürfen jetzt springen; das ist der Familienausdruck für: die Kinder dürfen vom Eßtisch aufstehen. Wir Besucherinnen schauen uns an und müssen lachen. Dann packen wir zusammen und brechen auf.
Ich finde C. auf der Bettkante vor, wo er sich abmüht. Mit Hilfe steht er auf; im Rollstuhl fahre ich ihn auf dem Gang spazieren. Der Gang endet vor einem großen Fenster, da halten wir an. C. stemmt sich hoch und steht dann, auf meine Schulter gestützt, vor der Scheibe.
Die Sonne erreicht noch nicht den Innenhof. C. schaut und schaut in die kahlen Baumkronen, auf das Dach unterm klaren Himmel, und ich habe das Gefühl: gerade begreift er, daß er weiter nicht mehr gehen wird. Er hebt eine müde Hand, winkt dem November; dann sagt er: hinlegen. Im Bett zieht er die Decke bis zur Nase und schläft, bleich, voller Unruhe.
Zwei Sätze: Ich will hier raus. (Nein.) Und: Ich habe doch alles gemacht? (Ja. Alles, was gemacht werden mußte. Und so viel mehr als das.)
Gute Wege, C., Lieber. Und danke.
Jetzt will ich seit zwei Tagen was aufschreiben und komme nicht dazu.
Besuch in der geliebten alten Schachtelstadt. Davor hatte ich ein wenig Angst; zu viele kleine Städte habe ich vor die Hunde gehen sehen. Aber, Überraschung, viel Bewährtes ist geblieben, viel Neues anders gut geworden.
Diese ganze Stadt ist kariert, Kopfstein und Treppen und Fachwerk und Fensterkreuze, die Dächer darüber ein Meer von Schiefer und Ziegeln. Zwischen all ihrem Stein findet sie immer noch Platz für Gärtchen, und sei's ein Rosenstock am Hauseingang. In jedem zweiten Haus hat Luther gewohnt, Brentano gedichtet, Herder einen großen Gedanken gedacht. Erstaunlich, daß die Touristenströme nie hierher gefunden haben.
Mein liebstes Antiquariat ist noch da, die Cafés, einige Kneipen; nur die Metzger gibt's nicht mehr, die Bäckerei hat keinen Nachfolger gefunden, der Wochenmarkt stirbt. Das alles erzählt die Gemüsefrau, deren Laden vor zwei Jahren fast hätte umziehen müssen; der Vermieter hatte mehr Geld verlangt. Kurz darauf war plötzlich von Mieterhöhung keine Rede mehr, da hatte nämlich ein Stammkunde von ihr das ganze Haus gekauft.
Das Hotel, an dem ich immer vorbeigelaufen bin: schräg (ist halt 400 Jahre alt) und ein bißchen zu niedrig, aber ungenormt auf eine Weise, die mich völlig darüber hinwegtröstet, daß ich ganz nah mal ein eigenes Zimmer hatte. Ich denke an Patrick L. Fermor und seinen Gang durch das alte Europa: Hier hätte er sich höchstens über den Fernseher in der Ecke wundern müssen.
Sehr seltsam ist es, einen alten Weg zu kreuzen und plötzlich für einen Augenblick wieder zur Mensa zu gehen; und das Zurückschnappen ins Jetzt. Das ist wie angeschubst werden, Püppchen im Puppenhaus.
Einmal schütteln. Und weiter, zum Bahnhof, nach Hause fahren.