Der charmante Professor, Wuschelfrisur, blendend sitzender Anzug und ein jungenhaftes Lächeln, muß um die dreißig sein; oder? Als er nach dem Vortrag an mir vorübergeht, sehe ich, daß das nicht sein kann. Ich frage eine, die ihn kennt: neunundfünfzig ist er. Wert auf sein Äußeres habe er schon immer gelegt, Maßanzüge, gefärbtes Haar, gebleichte Zähne; seit ein paar Jahren verjünge er sich chirurgisch. Botox, hier gestrafft, da unterspritzt, Tränensäcke weg ... Später höre ich jemanden sagen, der Professor wirke so unglücklich in letzter Zeit.
Endlich bessere Nachrichten vom lieben Freund: Er langweilt sich. Nach der Operation, berichtet er, habe er sich Tage getrennt von seinem Leib erlebt; der war halt das, womit die Mediziner hantierten. Nun sei er wieder hineingeschlüpft in seinen Körper, und er müsse sich mit allem, was da jetzt fehle, umgeräumt und zuviel sei, arrangieren.
G. ist im Dorf verwurzelt, verschwägert und versippt, drum heiratet H. in ein Dorf ein. Vor dem schmucken historischen Standesamt sammeln sich wilde Gesellen in Motorradkluft, G.s Freunde, beäugt von älteren Damen aus dem Schutze ihrer Vorgärten.
H. ist ganz strahlende Braut; dieses Kleid hat sie sich schon als kleines Mädchen gewünscht.
Der Festplatz im Wald (und den bekommt nicht jeder!) ist mit Blumen geschmückt. Unter der Überdachung sitzen die Weißköpfe beisammen, im Rauch des Grills die gestandenen Leute, das Jungvolk hält sich unter den Bäumen am Rand; um alles herum purzeln Kinder und Hunde.
Daß das Wetter mitspielt, ist das Größte, und gleich danach die Aussicht über die Gegend. Ich sitze mit den Cousinen unter einem Baum. Auf der Hochzeit der einen wäre ich als Blumenmädchen fast aus der Kutsche gestürzt, hätte mich der Bräutigam nicht noch an einer Rüsche erwischt. Die alten Geschichten sind aufmerksam und quicklebendig.
Die Nacht kommt zögernd. Ich freue mich an der Landschaft unter der Dämmerung und daran, wie schön H. und G. es haben werden in ihrem Dorf zwischen Äckern und Wald. In weiter Ferne sprüht ein Feuerwerk winzige Funken. Dann gehe ich die Namen der Orte durch und der Hügel, so weit ich sie kenne; eigentlich ist das hier auch meine Heimat. Das ist schon was.
Als ich gehe, bleibt das Fest schnell im Dunkel zurück. Der Wald duftet nach Sommer. Irgendwann wird auch die Musikbeschallung so leise, daß ich die Nachtigall hören kann; da wünsche ich mir, ich hätte kein Ziel und es bliebe noch ein Weilchen Nacht und Sommer und ich müßte nicht zurück in die Stadt.
Der steinalte Hund von nebenan hat Schmerzen. Er, der mich sonst keines Blickes würdigt, schleppt sich zu mir und drängt sich gegen meine Knöchel. Ich bin sprachlos. Falls er glaubte, ich großes, allmächtiges Wesen könne irgendetwas tun gegen sein Leid, so muß ich ihn enttäuschen.
Einem Menschen reicht die Diagnose, um krank zu sein; ein Hund ist genesen, sobald die Schmerzen weg sind.
Früher war ich mal katastrophenfest. Früher hatte ich ein dickeres Fell.
Zehn Jahre scheint er gealtert seit der Diagnose. Es geht ihm nicht schlecht, aber er weiß und kann nicht mehr nicht wissen. Seine Angst ist begründet; es ist ernst.
Gesellschaft erträgt er nur, weil er weiß, daß seine Lieben nicht anders können. Vielleicht ist nicht da sein, was ich tun kann?
Alle sind wir allein und denken unsere finsteren Gedanken. Als könnte man das: vorbereitet sein.
Der Beiname des Worst Case ist: Aber davon wollen wir nicht ausgehen.
Vielleicht gibt es ja noch eine Möglichkeit. Vielleicht ist es nicht so schlimm. Wenn all diese Wunder einträten, wären sie keine Wunder mehr. Man wendet sich: an Fachleute, an Zweitfachleute, an Überlebende, an Leute, die alles ganz anders machen, und dreht sich im Kreis.
"Was ich auf keinen Fall möchte, ist eine lange Leidensphase." Aber das wird dann heißen: die Hoffnung aufgeben. Ich hatte ganz vergessen, wie tief die sitzt; ein Stachel mit Widerhaken.
Die Mühlen sind angeworfen. Ein lieber Freund wird, auf die eine oder andere Art, darin verschwinden.
Aber. Aber. Vielleicht. Vielleicht. Vielleicht.