Alle Welt will Fisch zu den Festtagen; in der Räucherei muß man lange anstehen. Die Verkäuferinnen sind freundlich und effizient. Ein älterer Herr ist an der Reihe. Er hat schon einiges auf dem Tresen liegen.     Wie wollen Sie den Lachs, gebeizt? geräuchert?     Oh, äh, das weiß ich gar nicht. Da muß ich die Regierung fragen, Moment, die ist draußen im Auto. Er verläßt den Laden und erscheint kurz darauf mit einer streng dreinblickenden Dame, die die Sache regelt. Während er nach der Geldbörse kramt, kehrt sie auf dem Absatz um:     Dann kann ich mich ja wieder ins Auto setzen.

Hinterm Haus blüht eine Zierpflaume. Gelbe Rapsfelder stehen vor nackten Waldsäumen. Vermischte Kalenderblätter.

Die sich überschlagende Stimme der Nachbarin: "Do, ich habe schon das Telefon, gleich rufe ich die Weihnachtswichtel an, daß sie die Geschenke wieder abholen!" Das Nachbarskind ist offenbar nicht brav geblieben nach der Bescherung.

Und wie H.s Laune schwarz und schwärzer wird, als er sieht, was man den Kindern beschert hat: die Hälfte der teuren Sachen schon kaputt vom begierigen Auspacken, kein Spiel ohne mindestens pädagogischen Anspruch, und das Tablet bringt Werbung nach jedem geschafften Level.

Derweil verspüre ich wenig Lust auf Bilanzen. Jahr zu kurz, wie immer. Überhaupt, all die angefangenen und nicht zu Ende geschriebenen Texte; die geschriebenen und nicht eingeworfenen Karten.





Aus dem längsten Schlaf des Jahres hat mich Amselgesang geweckt.





Ich mag es nicht, auf Verkehrsmittel angewiesen zu sein. Aber um die meisten Städte lagert ein Ring von öden Vororten, riesigen Parkplätzen, Industrie und Gewerbe, und die Einfallstraßen haben keine Fußwege. Die letzten Kilometer am Rande der Stadt sind kein Abenteuer, sondern eine Fleißaufgabe; alle Wege sind lang, alle Ausblicke langweilig, eben für Autofahrer gemacht. Für Fußgänger bedeutet das Umwege – oder Risiken; Abkürzungen sind oft Sackgassen.

Der ältere Herr, den ich nach dem Weg hinaus frage, denkt wie ein Autofahrer. Wo wollen Sie hin? Nach S.? Das sind aber 30 Kilometer, mindestens! (Es sind sechzehn.) Da gehen Sie am besten über L. ... (Das wäre ein Umweg von zweieinhalb Kilometern.)

Ich finde meinen Weg mehr nach Sonne als nach Karte, und das gefällt mir gut. In den Feldern ist der Blick plötzlich unbegrenzt. Menschen sehe ich schon in weiter Entfernung, aber wir ziehen aneinander vorbei, ohne uns zu begegnen, wie Schachfiguren oder wie Planeten.

Im Neubaugebiet am wuchernden Dorfrand von N. bremst ein riesiges Auto für mich. Auf Schanzhügeln aus Gabionen stehen hier Häuser im Haziendastil, in schwedischer und schweizerischer Art; es scheint, der deutsche Mittelstand wolle unbedingt anderswo wohnen. Man hat zwei Garagen und eine Ladung Kies als Vorgarten. Der alte Dorfkern wirkt verödet, eine Durchgangsstraße mit Sparkasse und Supermarkt, kein Gasthaus.

Dann kommt noch ein herrliches Stück Wegs, ein Anstieg wie eine Treppe in die Wolken. Ich denke über mein Unbehagen nach, nicht hinaus zu können, nicht zu Fuß raus aus der Stadt, abgeschnitten zu sein von der Welt. Meine Welt ist weit. Was ich gegangen bin, gehört mir.

Sechs Stunden bin ich gelaufen; die Rückfahrt mit der Bahn dauert 30 Minuten. Der Himmel bauscht sich blutrot und golden, eingerahmt von den Gummidichtungen der Zugscheiben.





Wieder eine Kaffeetafel, 2015: Jahr der Kaffeetafeln, Verwandte und Verschwägerte bis auf einen; den halte ich im Auge und bin in diesem Moment selbst nur noch halb Teil der Sippe.

Herrje.

Daß die eigene Familie immer die schlimmste ist, die Familien anderer aber alle ganz umgänglich.

Der Irrglaube, man könne anderen die Verrücktheiten der eigenen Sippe erklären. Erzählen ja, erklären nein.

Derweil ein Wetter eine wie eine Projektion der Watte in meinem Kopf. Den Blumen ist auch schon ganz welk zumut.





Er hat schlechte Nachrichten bekommen. Ich weiß nicht, ob ich ihn danach fragen soll; mein Impuls wäre, ihn gelegentlich in den Arm zu nehmen, aber das geht nicht. Dafür kennen wir uns offenbar noch ein paar Jahrzehnte zu wenig; und zumindest von mir würde ich sagen: nicht der Typ dafür.

Eigentlich jedes Mal versumpfen wir in finsteren Visionen und verfallen dann irgendwann in haltlose Albernheit, dafür haben wir beide ein Talent, und vielleicht ist genau das meine Aufgabe.

Helfen kann ich nicht. Aber er weiß wohl auch noch nicht einzuschätzen, was er mir zumuten kann. Nun. Abwarten. Und Kaffee trinken mit T.; irgendwann wird sich das schon alles auflösen, hoffe ich.