Und dann bekommt man einfach so eine Stadt geschenkt.

R., der strubbelige Riese, der in dröhnendem Baß zwischen drei und mehr Sprachen springt und in jeder schmutzige Witze weiß, führt uns durch das Prag der Einheimischen. Gassen und Boulevards, Bahnhöfe, Parks, Festungsmauern. Warme Gaststuben, herzhafte Küche für kleines Geld. Menschen, die froh machen. Und Schnee, eine dichte Decke, noch obendrein.

P. hingegen ist sanft und leise, und wie er sich freut, ist eine Freude. Ihm gelingt es, mir bei zwei Bier die Leute hier zu zeigen, worüber sie lachen, was sie mögen, wo sie stur sein können. Die goldene Stadt hat er mir von innen erleuchtet.

Ein Touristending muß natürlich sein. In der Menschentraube vor dem Rathaus erklärt ein Stadtführer: mit Glockenschlag der Uhr werden die Apostel an den Fenstern über dem Zifferblatt vorbeiziehen. Der geschnitzte Tod wird nicken, und die Menschen ihm gegenüber werden die Köpfe schütteln, weil sie nicht mit ihm wollen, aber was hätte das je gebracht. Und hier sei der einzige Ort in der Stadt, wo man wirklich um Hab und Gut fürchten müsse, wenn man so gebannt nach oben schaut.

Ich schaue dann doch mehr auf die zahllosen emporgehobenen Bildschirme und Bildschirmchen, die den Zug der Apostel, den nickenden Sensenmann und die sich sträubenden Menschen vervielfältigen. Vielleicht wird wirklich der ein oder andere nachher dieses Filmchen besitzen und sonst nicht mehr viel. Bedenke, daß du sterben mußt, und paß dabei auf deine Sachen auf.

Und, klar, so ist das mit Geschenken: wiederkommen muß ich.





Sie waren, im vierundfünfzigsten Jahr ihrer Liebe, wie jeden Abend gemeinsam zu Bett gegangen. Gleich nach dem Gutnacht muß es gewesen sein, da wurde er still, für eine Nacht noch Wächter ihres Schlafes; als sie erwachte, war sie längst allein. Da schrie sie.

Im Hausflur, von dem Türen in alle Zimmer gehen, haben sie ihn aufgebahrt, in Kleidern, die er gerne trug. Die breiten Hände halten nur noch Rosen. Wir Lebenden schauen scheu hinüber auf den Schläfer und sprechen ein Gebet.

Dann bringen sie ihn aus dem Haus, das er selbst gebaut hat. Vier Männer müssen tragen, denn er war nicht klein. Die Klappe des Leichenautos senkt sich gemessen, am Wagenhimmel stehen Sterne.

Eine schöne Aussegnung, sagen alle. Sie, die übrig bleibt, sie nickt und kann und kann es nicht verstehen.





Alle Welt will Fisch zu den Festtagen; in der Räucherei muß man lange anstehen. Die Verkäuferinnen sind freundlich und effizient. Ein älterer Herr ist an der Reihe. Er hat schon einiges auf dem Tresen liegen.     Wie wollen Sie den Lachs, gebeizt? geräuchert?     Oh, äh, das weiß ich gar nicht. Da muß ich die Regierung fragen, Moment, die ist draußen im Auto. Er verläßt den Laden und erscheint kurz darauf mit einer streng dreinblickenden Dame, die die Sache regelt. Während er nach der Geldbörse kramt, kehrt sie auf dem Absatz um:     Dann kann ich mich ja wieder ins Auto setzen.

Hinterm Haus blüht eine Zierpflaume. Gelbe Rapsfelder stehen vor nackten Waldsäumen. Vermischte Kalenderblätter.

Die sich überschlagende Stimme der Nachbarin: "Do, ich habe schon das Telefon, gleich rufe ich die Weihnachtswichtel an, daß sie die Geschenke wieder abholen!" Das Nachbarskind ist offenbar nicht brav geblieben nach der Bescherung.

Und wie H.s Laune schwarz und schwärzer wird, als er sieht, was man den Kindern beschert hat: die Hälfte der teuren Sachen schon kaputt vom begierigen Auspacken, kein Spiel ohne mindestens pädagogischen Anspruch, und das Tablet bringt Werbung nach jedem geschafften Level.

Derweil verspüre ich wenig Lust auf Bilanzen. Jahr zu kurz, wie immer. Überhaupt, all die angefangenen und nicht zu Ende geschriebenen Texte; die geschriebenen und nicht eingeworfenen Karten.





Aus dem längsten Schlaf des Jahres hat mich Amselgesang geweckt.





Ich mag es nicht, auf Verkehrsmittel angewiesen zu sein. Aber um die meisten Städte lagert ein Ring von öden Vororten, riesigen Parkplätzen, Industrie und Gewerbe, und die Einfallstraßen haben keine Fußwege. Die letzten Kilometer am Rande der Stadt sind kein Abenteuer, sondern eine Fleißaufgabe; alle Wege sind lang, alle Ausblicke langweilig, eben für Autofahrer gemacht. Für Fußgänger bedeutet das Umwege – oder Risiken; Abkürzungen sind oft Sackgassen.

Der ältere Herr, den ich nach dem Weg hinaus frage, denkt wie ein Autofahrer. Wo wollen Sie hin? Nach S.? Das sind aber 30 Kilometer, mindestens! (Es sind sechzehn.) Da gehen Sie am besten über L. ... (Das wäre ein Umweg von zweieinhalb Kilometern.)

Ich finde meinen Weg mehr nach Sonne als nach Karte, und das gefällt mir gut. In den Feldern ist der Blick plötzlich unbegrenzt. Menschen sehe ich schon in weiter Entfernung, aber wir ziehen aneinander vorbei, ohne uns zu begegnen, wie Schachfiguren oder wie Planeten.

Im Neubaugebiet am wuchernden Dorfrand von N. bremst ein riesiges Auto für mich. Auf Schanzhügeln aus Gabionen stehen hier Häuser im Haziendastil, in schwedischer und schweizerischer Art; es scheint, der deutsche Mittelstand wolle unbedingt anderswo wohnen. Man hat zwei Garagen und eine Ladung Kies als Vorgarten. Der alte Dorfkern wirkt verödet, eine Durchgangsstraße mit Sparkasse und Supermarkt, kein Gasthaus.

Dann kommt noch ein herrliches Stück Wegs, ein Anstieg wie eine Treppe in die Wolken. Ich denke über mein Unbehagen nach, nicht hinaus zu können, nicht zu Fuß raus aus der Stadt, abgeschnitten zu sein von der Welt. Meine Welt ist weit. Was ich gegangen bin, gehört mir.

Sechs Stunden bin ich gelaufen; die Rückfahrt mit der Bahn dauert 30 Minuten. Der Himmel bauscht sich blutrot und golden, eingerahmt von den Gummidichtungen der Zugscheiben.