Die Hauptdarstellerin war erkrankt, und nun standen ein paar Dutzend Leute vor dem Theater und hatten einen freien Abend.
Einige konferierten, wie sie die Zeit anders nutzen und wann sie dann das Stück nachholen würden. Und dann gab es ein paar, die verärgert waren. Haben die keinen Ersatz? Hätte man das nicht früher –? Wann anders gehen; was denken die? Das Geld hol ich mir zurück.
C. und ich standen in der summenden Menschentraube. Beide mögen wir, wenn etwas schief geht. Wie damals, als der Flieger verspätet war, so daß das Orchester direkt vom Flugplatz kam und eine lange, lange Schlange in Fräcken und Roben vor der Toilette bildete, während das Publikum schon in den Konzertsaal strömte. Dann war auch noch der Dirigent erkrankt, der Ärmste; aber wir hatten einen prächtigen improvisierten Abend.
Wie denn auch gestern.
Es fällt mir nicht schwer, den Weg zu ändern, Unwägbarkeiten in Kauf zu nehmen, Pläne umzuwerfen, überhaupt: etwas ohne Plan anzugehen; das bißchen Angst vergeht auch wieder. C. sieht das ähnlich. Unsere schönsten Erlebnisse waren die überraschenden.
Kein Wunder, daß ich immer wieder mit Menschen aneinanderrassele, die gern alles unter Kontrolle haben wollen.
Besuch von J. auf seinem Weg nach Norden: ein begabter Reisender mit leichtem Gepäck, Lachfalten, einem schönen Zungenschlag und ganz ohne Furcht vor Begegnungen.
Bedächtig ist das erste, was ich denke, als ich ihn sehe; er nimmt sich Zeit, kommt an und ist dann da, ganz. Er drängt nicht in den Mittelpunkt; doch irgendwann ist die Mitte einfach da, wo J. ist, und es gibt dabei noch Platz genug für andere. Wo er sich niederläßt, schart sich Freundlichkeit wie ein Schwarm Vögel.
Einen scharfen Blick hat er, sieht, wie Dinge gemeint und wie sie geworden sind und die manchmal komische Diskrepanz; überhaupt, das Komische. Er trägt seine Seele als Leinwand und verhehlt die Spuren nicht, die die Welt auf ihr hinterläßt; er nimmt und reflektiert und formt diese Spuren, macht sie zu seiner Kunst. Zu mir kommt sie als Woge, als Flut von Erinnerungen.
J. trinkt bloß einen Kaffee, dann muß er weiter; zum Abschied hinterläßt er lächelnd einen Gedanken, eine funkelnde kleine Idee, über die ich noch Stunden später grinsen muß.
Die wird mir bei jedem Waldspaziergang wieder einfallen.
Gänzlich geplättet nach dem Opernabend, ergriffen, im Sinne des Wortes; bis in die Träume reichten die Bilder.
Die Geschichte selbst ist spröde, gebrochen; in den Bildern spiegelt sich das, und die Musik webt noch einen weiteren Zauber darüber, rückt ein Brennglas über die Seelen der Akteure.
Das Loslassen. Wie schwer es ist, das mit Grazie zu tun; der Marschallin gelingt's, unter Schmerzen. (Schmerz und Anmut. Wie die Kleine Meerjungfrau: Messer bei jedem Schritt.)
Die Frau, die den jugendlichen Liebhaber gehen läßt, ohne ihn zu zerdrücken, auch wenn sie so viel mehr weiß als er. Die ganz große Geste dieses Verzichts. Und die glückliche Sophie, die mehr spürt als daß sie versteht: Sie gibt ihn mir – und nimmt mir damit etwas weg von ihm.
In der Oper aus jeder Zeit gefallen; nachher unter einer Glasglocke durch die Stadt. Wieso Oper?, diese Frage stellt sich mir nicht. Es gibt nichts, was wäre wie Musiktheater, und so vieles, was darauf zurückgreift. Alle Freuden, alle Traurigkeiten des Seins auf der Bühne; und all die Geschichtchen, die meinen, die in Opernhäusern wohnen. Nein, das mag ich nicht lassen.
Hier: über die Aufführung, ganz wunderbar zu lesen.
Jetzt ist die Zeit, in der nicht Salzkristalle oder zermanschtes Konfetti, sondern die Kronblätter von Erdbeeren auf den Bürgersteigen liegen. Ich folge ihnen, eine oder zwei Schalen weit, aber doch nicht bis zum Ende der Spur.
Auf meinem Küchentisch steht ein freundliches Geschenk: eine Päonie, vier duftende Blüten in allen Stadien von eben erblüht über volle Pracht bis gänzlich verschwendet. Zwischen ihren Blättern finde ich schwarze Ameisen, Pfade ablaufend, die in einem Garten vor der Stadt begonnen haben und nun im Nichts enden. Sie werden nie wieder heimfinden. Sie werden noch ein Weilchen suchen und dann in dieser Fremde, die meine Küche ist, sterben.
Die so schön welkenden Blüten erinnern mich: das Alter hat mich bislang beschenkt; vielleicht kann ich deshalb freundlich darüber denken. Ich mag den Lauf der Jahre, ich mag es, nicht mehr jung zu sein.
Der Dichter von damals ist heute Schriftsteller. Ich habe noch nichts von ihm gelesen; aber das Genre hätte er mir ohnehin nicht zugetraut.
Erstaunlich, plötzlich neben zwanzig vergangenen Jahren zu stehen. Er weiß meinen Namen noch, ich sein Autokennzeichen. Was machst du so? nur ironisch; in den Gesprächsflauten Gekicher. Er ist auf der Hut, wer könnte es ihm verdenken; immerhin ist er einigermaßen berühmt, und er hat einen einsamen Beruf.
So unverhofft wie ihn treffe ich auch das junge Ding wieder, das ich damals war. Zu jung für Zukunft, zu jung, um andere Menschen wirklich zu sehen; und doch dachte ich damals: der kann was. (Heute klopfe ich mir innerlich auf die Schulter: na bitte.) Und ich merke, wie viel von dem jungen Ding noch übrig ist – die Gedankensprünge, der Spaß am Absurden, die Zerstreutheit (schlimmer geworden). Die Mischung aus Schüchternheit und Impulsivität, inzwischen geglättet und poliert von Benimm.
Dafür sehe ich heute viel genauer, verstehe mehr.
Am Ende tauschen wir Mailadressen aus, der Schriftsteller und ich.