Auf dem Weg zur Bahn wartet gegenüber an der Ampel eine junge Mutter mit Tochter, eins von diesen Riesenkindern, wie man sie heute durch die Stadt schiebt; vier ist das Mädchen sicher schon und sehr genervt, daß die Mutter auf Grün wartet. Los! Fahr!, tönt das Kommando aus dem Kinderwagen, und auf die Proteste der Mutter, daß die Fußgänger rot hätten: die anderen Leute gehen auch!

Irgendwo muß ein Mittelaltermarkt sein. Vorm Fahrkartenautomaten steht ein Mönch oder Druide mit übermannslangem Wanderstab und Kutte, am Leibstrick eine hölzerne Schale und an den Füßen erstaunlicherweise Schnabelschuhe mit stark einwärts gedrehten Spitzen, und müht sich, eine Fahrkarte zu bekommen, ohne daß dabei sein Stab umkippt, seine Schuhspitzen gegen den Automaten drücken oder sich sein Bart verheddert.

Die schönste Erscheinung des Morgens aber ist eine Nonne im schneeweißen Habit, die mir entgegenkommt; ich habe den Wind im Rücken, sie die Sonne. Und die läßt sie erstrahlen, eine Lichtgestalt in wehendem Weiß mit dunklem Kern: ihr weiblicher Körper im Schattenriß. Ein hinreißendes Bild, das sie sicher unziemlich fände, wüßte sie darum.





Wir müssen heute raus von null bis vier ... B. antwortet: Klingt komisch, ist aber so. – Damit wäre das geklärt. Machen wir also Ausguck, zu zweit, daß keiner einschläft, und reden, leise, daß keiner aufwacht.

B. hat Beruf und Ehrenamt, teilt mit Freunden einen Schrebergarten und kocht leckere Sachen, die er in Portionen einfriert. In seiner Berufung sieht er Dreck und Pech und Tod und Leute, die statt danke sagen, na, da hatten Sie wenigstens was zu tun diese Nacht. Mit der Welt ist er nicht zufrieden, da fehlt es ihm an Ethik, an Zusammenhalt. Er aber scheint beschlossen zu haben, zufrieden zu sein mit dem Leben.

Beim Segeln bekommt er den Kopf ganz aus dem Alltag. Stunden an den Horizont schauen oder, wie jetzt, die Sternbilder betrachten, wann sonst hat man die Muße? Für ihn ist Glück kein teures Geschenk. Man muß es nur sehen. Und man muß es lassen.

Nach B. würde sich keiner umdrehen; nicht auf den ersten Blick. Das kommt erst später, und schleichend, daß man sich besser fühlt, wenn man seine Gestalt im Raum geortet hat.

Zum Abschied nehmen wir uns herzlich in den Arm. Im stillen wünsche ich ihm, daß er wiederbekommt, was er so selbstverständlich gibt.





Mit V. haben wir vor hundert Jahren mal auf der Bühne gestanden, das Stück war von T., V. machte Musik, und bei der Schlußverbeugung hatte ich mir die bloßen Füße an Glasscherben zerschnitten, oben Lächeln, unten blutige Abdrücke. Danach hatte V. ein paar Jahre lang meine Posaune, aber das ist eine andere Geschichte.

T. und ich treffen V. beim Kaffeetrinken, zufällig, V. hat heute ausnahmsweise frei. Sein Töchterchen hängt wie eine Klette an ihm; er füttert sie mit Fleischwurst, bis sie einschläft und er sie in den Kinderwagen legen kann.

Wir flachsen, als wäre die letzte Probe nicht ein paar Jahrzehnte her, und suchen aus den Augenwinkeln in den Gesichtern nach Spuren unserer krummen Wege; das ist anders als damals, da standen wir alle am Beginn einer langen, geraden Bahn.

Nach einem halben Stündchen lasse ich T. und V. allein; ich habe zu tun. Im Davongehen grinse ich; bestimmt reden sie jetzt über Mädchen. Wie man sie am besten zu Bett bringt und was man macht, wenn sie keinen Mittagsschlaf mehr wollen.





Auf den ersten Blick ist es ein ganz normaler Marktstand mit Gemüse, doch auf drei von sechs Tischen liegen Kartoffeln, nichts als Kartoffeln, in verschiedenen Farben und sortiert nach Größe. Auf den Schildern lese ich: Rote Emmalie, Bamberger Hörnchen, Odenwälder Blaue. Ich frage nach einer Sorte, die ich schon lange suche, da kommt der Kartoffelbauer selbst.

Nein, die Blaue Anneliese habe er nicht, aber die Violetta. Oder, wenn sie nicht unbedingt blau sein müsse, die Alexandra, die sei ausgezeichnet im Geschmack, festkochend, gute Salatkartoffel. Ich habe von Alexandra noch nie gehört. Ja, die hätte auch nicht jeder, die sei anspruchsvoll und ginge beim maschinellen Ernten kaputt; für so was sei er spezialisiert.

Es hat sich eine Schlange gebildet, doch er spricht jetzt von Kartoffeln. Die alten Sorten: Das Saatgut koste ein Vielfaches, der Ertrag sei geringer, und man müsse viel mehr von Hand machen, die seien halt nicht optimiert. Aber wie die schmecken! Hier, die Bonnotte. Herrliche Kartoffel, bloß mit tiefliegenden Augen – viele Kunden lassen die liegen. Er macht sie, weil sie so gut ist.

Sicher, die neuen, populären Sorten hat er auch, man will ja leben. Weniger Arbeit, naja, aber viel mehr Spritzmittel brauchen die, können nix ab. Die hier, und sein Ton wird schwärmerisch, da muß kaum Gift ran. Die sind so richtig vital. Das Bamberger Hörnchen, so als Beispiel, das hat ein Kraut, sag ich Ihnen, ein Kraut, so hoch, da muß erst mal der Mulcher drüber, ehe man die ernten kann. – Er strahlt, als spreche er von den Streichen eines leicht verzogenen Lieblingskindes.

Ich gehe heim mit einem Kilo Mayan Twilight. Schnell gekocht, schwer zu pellen, aber sogar ohne Salz ein Gedicht. Wunderbare Kartoffel, da hat der Mann ganz recht.





Das Kind ist acht. Es liest und liest. In Städten mag es Häuser, die nach Stadt aussehen. Am liebsten ißt es Spinat und Karotten, und Hülsenfrüchte, weil es muß. Es lächelt nicht leicht und hat zwei steile Falten zwischen den Brauen. In der Küche hilft es gern, braucht aber ewig. Seine Geschichten fangen meistens mit Weißt du was? an.

Am Ufer steht es ganz ruhig und schaut. Enten, Gänse, der erstaunliche Kormoran, aber am schönsten doch die Schwäne: Weißt du was? Ich glaube nicht, daß den Schwänen bewußt ist, daß wir Menschen sie bewundern.

Kurz darauf am Kaffeetisch fragen mehrere Tanten, ob das Kind wirklich keinen Kuchen möchte, Käsesahne oder vielleicht Himbeer oder so einen mit Besee, aber es runzelt die Stirn: Ich möchte einfach ein Glas Milch. Und sonst nichts.