Die Wirtin, die auch mit zwei neuen Knien und einer neuen Hüfte nicht aufgibt. Mit dem Rollator pendelt sie lächelnd zwischen Küche und Gastraum, Geschirr und Besteck und selbstgekochte Marmelade vorn im Transportkorb. Wer hätte da das Herz, sich wegen einer nicht ganz sauberen Tasse zu beschweren?

Die Lehrerin, die bei jedem Fehler sagt: macht doch nichts!, und der größte Fehler wäre, ihr das abzunehmen.

Der alte Mann, der seine Besitztümer auflistet, mit Kaufpreis und Anschaffungsdatum. Er kann die Listen nicht mehr lesen, er kann nicht einmal die Dinge sehen, die er zittrig notiert. Er ordnet und ordnet und ordnet, und ich weiß nicht, ob ich verstehen will, wieso.

Die Frau, die mitten in der Stadt das einzige Grün beackert, das es für sie gibt: die Baumscheibe zwischen den Parkplätzen vorm Haus. Gartenblumen hat sie darin, nichts Eßbares – die Hunde; manchmal klingelt sie und bittet, man möge ein Auto etwas zur Seite fahren, damit sie jäten kann. Dann beschließt die Stadt: Sanierung. Die Straße wird aufgerissen, die Bäume fallen, und das kleine Beet mit den eben erblühten Tagetes: weggebaggert. Die Baumscheibe soll einen Deckel aus Metall bekommen, gegen die Hunde.

Das kleine Mädchen, das in Müdigkeit und Bedrängnis nicht nach einem Stofftier jammert oder einer Kuscheldecke, sondern nach: ein Buch, ein Buch!

Der waschechte Ingenieur, Ingenieur und nichts als Ingenieur, der die Welt zerlegt und repariert und dem Poesie so nutzlos wie ein Kropf erscheint – und der dann so ein zartes, schönes Ding sagt über Spatzen, so schön, daß es mir den Atem verschlägt. (Und das vergessen zu haben ich mich gräme.)





Den Laden gibt es seit Jahrzehnten, ein heimlicher Dorfplatz inmitten der Stadt: hier kennt man sich bis ins dritte Glied. Frau F. leitet die Geschicke des Geschäfts, lächelnd und mit fester Hand, und Herr F. macht die Technik. Er kann das; er kann alles, was mit Maschinen zu tun hat. Im Iran war er Pipeline-Ingenieur oder wäre es geworden, wenn ihm nicht die Politik dazwischengeraten wäre.

Herr F. ist ein Bilderbuch-Perser. Immer trägt er Weste, zugeknöpft. Mähne und Bart sind mittlerweile beinah weiß. Er ist stolz auf das, was er geschafft hat: Flucht mit Frau und Kindern, Deutschkurs, Weiterbildungen und Arbeit, Arbeit, Arbeit. Und natürlich dieses Geschäft, dessen zusammengewürfeltes Inventar er in Betrieb hält mit Schraubenschlüsseln und Erfindergeist.

Sein Akzent singt und hat diese dunkel gefärbten as, die ich so gern höre. Oft sagt er Sätze, in denen mein Herz vorkommt oder meine Seele, aber nur, wenn kein Fremder dabei ist. Bei traurigen Geschichten poltert er: nun, jeder ist seines Glückes Schmied, Leben ist grausam, mal geht es so, mal anders; doch Stunden später noch hört man ihn seufzen.

Die Bitterkeit ist ihm nicht fremd. Was alles hätte werden können, und die Ohnmacht; keine Schikane hat er vergessen, keinen Beamten, keinen Vorgesetzten, der ihm je das Leben schwer gemacht hat. Herr F. hat ein langes Gedächtnis. Immer noch sagt er: bei uns im Iran.

Dennoch, das Lachen liegt nur einen schlechten Witz entfernt, und es ist zuverlässig ansteckend. Diesem dröhnenden, tiefen Lachen von Herrn F. könnte sich höchstens eine Maschine entziehen. Wenn überhaupt.

Allmählich denken sie ans Aufhören, die F.s; irgendwann muß es gut sein. Ich schaue mich im Laden um, betrachte die Museumsstücke, die hier Arbeiten aller Art verrichten und deren Mechaniken stillestehen werden ohne die ständige Zuwendung von Herrn F.; ich sehe die Kunden, deren Unterlagen, Abschlußarbeiten, Lebensläufe hier verwaltet werden seit Generationen und deren Aufträge aus zwei, drei Worten bestehen: wie immer, bitte!, ich denke an büschelweise Geschichten und ahne tausend mehr und merke, wie sie selbst langsam zu Geschichten werden, die F.s und ihr Fotokopiergeschäft im Herzen der Stadt. Ohne sie wird es nicht mehr dasselbe sein.





Der Himmel trägt Wolken, die vor allem uns wie gemalt erscheinen, die wir mit Sekt und Brezeln im Theaterfoyer an den himmelhohen Fenstern stehen und die Pause vom Schauen mit Schauen zubringen.

Und wie schön all die Menschen sind, die mir auf dem Heimweg begegnen.

Bei einem der Studenten im Haus tritt eine Dame, die aussieht wie er ohne Vollbart, mit Kittel und Schrubber vor die Tür. Mir damals wäre das unendlich peinlich gewesen, bzw.: das hätte es nicht gegeben, ganz einfach; aber die Zeiten, sie ändern sich.

(Wenn ich mich allerdings recht erinnere, hat mir meine Mutter mal nach einem Umzug den Blumentopf hinterhergefahren, den in der WG keiner haben wollte. Die Pflanze klebte mit allem, was grün war, an der Windschutzscheibe, und so fuhr meine Mutter mit einem üppigen Topf Cannabis sativa auf dem Beifahrersitz quer durch Bayern. Ich habe ihr nie erzählt, was sie da transportiert hatte, und auch nicht, daß das Kraut nach kurzer Zeit in meiner Pflege eingegangen ist.)

Und jeden Morgen zeigt mir die Fassade gegenüber in Spiegelungen, grau oder gold oder blau, den Himmel.

Es ist Mai. Vorhang auf für den Sommer.