Sie liegen auf Eis, ein paar Dutzend schwarz und silbriger Fische, und starren in die Dunkelheit jenseits der Glasscheibe. Immer wieder zuckt es in dem Haufen, bäumt sich einer, schnellt eine Handbreit in die Luft und scheint dabei einen anderen zu wecken, der dann seinerseits mit dem Schwanz schlägt und springt.
Sie sind sauber aufgeschnitten, sauber ausgenommen; man kann ihnen in die Bäuche schauen bis zum Rückgrat. Kein Tropfen Blut färbt das Eis. Dennoch wird die Kundin, die der Vitrine am nächsten steht, bleich und geht ein paar Schritte beiseite. Die sind ganz frisch geschlachtet, sagt die Verkäuferin; voll Mißbilligung schaut sie auf die zappelnden Forellen, die noch nicht still liegen, noch nicht das Weihnachtsessen sein wollen, als das sie hier verkauft werden.
So kurz die Tage und so sonnenlos, da träume ich nachts von Felsen und Meer. Ich kenne die Traumbilder: das ist die bretonische Steilküste.
Acht oder neun muß ich gewesen sein. Ich erinnere mich an die Routinen eines Sommerurlaubs, den täglichen Aufbruch an den Strand, Gezänk mit den Schwestern, Baguette und salzige Butter aus dem Kofferraum, Sand auf Strohmatten. Die Felsen reichten hier bis zum Wasser, und Teiche im Stein standen voller Wunder.
Wir packten zusammen, wenn die Flut kam und der Streifen Sand schmal und schmaler wurde. An einem heißen Tag war das ziemlich spät; das Licht war schon abendlich verfärbt. Ich mußte mich jedes Mal losreißen von den Krebsen und Schnecken und Anemonen in den Salztümpeln, die bald mit frischem Seewasser geflutet werden würden, und kletterte immer als Letzte den Pfad zum Parkplatz hoch.
Diesmal nicht. Einer der Felsen, die aus dem Sand ragten, hatte unter meinem Tritt hohl geklungen. Die Flut beleckte ihn schon, als ich mich hinabbeugte; schwärzliche, algige Oberfläche mit Seepocken, ja, aber eine ablaufende Welle riß genügend Sand mit sich, daß ich eine Vertiefung sehen konnte. Ich grub nach, da wurde es glatt, schimmernd – das war kein Fels, das war ein Schneckenhaus oder eine Muschelschale, zum größten Teil im Sand; sie mußte riesig sein.
Aber die Flut kam schnell; jede Welle reichte weiter als die vorige. Ich schaffte es nicht, die Muschel auszugraben. Den Hohlraum darunter konnte ich spüren, aber ich dachte an die Wesen aus den Felsenteichen und wagte nicht, hineinzugreifen. Meine Verzweiflung wuchs. Mit jeder Welle wurde das Wasser tiefer, oben auf dem Parkplatz hupte es.
Ich stand auf der Muschel, das Meer reichte mir bis zu den Knien, bis zur Hüfte. Meine Mutter stieg oben aus dem Auto und rief, aber ich konnte doch nicht; dann schubste mich eine Welle um, und ich paddelte an Land.
Die Eltern verstanden nicht, wieso ich so aufgebracht war. Ihr Schimpfen wiederum traf mich nicht. Ich war wütend, daß mir keiner geholfen hatte, und hinzu kam die Kränkung, daß sie mir nicht zu glauben schienen. Ich stellte mir vor, wie meine unwahrscheinlich große Muschel inzwischen tief unter der Wasseroberfläche lag. Würde sie bei der nächsten Ebbe jemand anderes finden? Hatte das Meer sie für immer verschlungen?
Während das Auto fort vom Strand und in die Dunkelheit rollte, während die Badebucht für die nächsten Stunden im Meer versank und ich mit dem letzten Fünkchen Hoffnung kämpfte, senkte sich diese Erinnerung, zusammen mit Bucht und Meer, tief in mein Gedächtnis.
E. hat die Operation gut überstanden, muß aber noch bleiben. Das Personal hier, klagt sie, kümmert sich nicht richtig. Lagern nicht korrekt, decken nicht richtig zu, versprechen viel und vergessen es dann.
Ihre Mitpatientin hat in den ersten Tagen viel geschlafen; jetzt sitzt sie aufrecht im Bett. Sie hat eine tiefe Stimme, Deutsch mit schlesischem Einschlag; ich bin fasziniert. Soll ich Ihnen einen Kaffee mitbringen, frage ich sie. Die trinkt keinen Kaffee, antwortet E., unerwartet garstig.
Das Deckenlicht stört sie, und sie macht es ohne zu fragen aus, obwohl die Mitpatientin liest. Mit ihrer Familie redet die nur Russisch, knurrt E., als sei das eine Rechtfertigung für irgendwas.
Später kommt eine Schwester, die Mitpatientin hat wohl geklingelt, und richtet dieser das Bett. Nein, noch ein Kissen. Und das Kopfende ganz nach oben, kommandiert die alte Frau. Die stellt vielleicht Ansprüche, flüstert E. vernehmlich. Dafür, sage ich, muß sie sich nachher nicht über falsche Lagerung und fehlende Decken beschweren. E. ist beleidigt.
Als ich gehe, bleiben zwei weißhaarige Frauen in Morgenmänteln zurück und eine Feindseligkeit, deren Grund vermutlich keine von beiden kennt; und ich will's auch gar nicht so genau wissen.
Die Siebenjährige schaut im Naturhistorischen Museum konzentriert die Vitrinen mit den Knochengerüsten an und die mit den ausgestopften Tieren. Dann stellt sie sich vor eine Aufsichtsfrau hin: Ich müßte mal was wissen. Sind die Tiere hier extra für das Museum getötet worden? – Die Aufsichtsfrau beschwichtigt, weiß aber auch nicht so recht, was sie sagen soll.
Er ist neun, das muß ich im Kopf behalten, als er erzählt, daß seine kleinen Brüder und er nur Halbgeschwister seien: Meine Mutter, sagt er, springt mit jedem ins Bett.
K., Lehrer an einem Kleinstadtgymnasium, bekommt einen Anruf von der Elternvertretung. Er hat seiner fünften Klasse einen Film über den Holocaust gezeigt, und nun: hätten Kinder Alpträume. Seien Sie froh, antwortet K., wirklich schlimm wäre, hätten die Kinder keine.
Und natürlich und immer wieder das hier.
In den Sechzigern sei sie Chefsekretärin bei einem großen Konzern am Rhein geworden und in dieser Funktion um die ganze Welt gereist, mit Staatsmännern, Königen und Diplomaten habe sie zu tun gehabt, bevor sie zum Lebensabend in ihr Heimatdorf zurückkam, erzählt J., der die letzten Jahre neben ihr gewohnt hat. Eine alleinstehende Dame, ihr Haus ein Museum an Erinnerungen und Kunst aus aller Welt. Eine regelrechte Bibliothek, eine systematische Mineraliensammlung habe sie gehabt, Fotos von ihren Reisen, aber auch aus den vergangenen hundert Jahren der Familie, Dokumente, Gedichte; manchmal habe sie den Kindern etwas davon gezeigt, die gerne zu ihr hinübergingen, um Geschichten zu hören.
Nach ihrem Tod seien die Erben gekommen, ziemlich entfernte Familie. Eine Woche habe man einen Müllcontainer vor dem Haus gefüllt. Ein jüngerer Verwandter habe Ordner voller Briefe, getippte Korrespondenz aus fünfzig Jahren, wieder herausgeholt – um sie zu verbrennen, wer weiß, was da noch drin ist. Es sei viel geflucht worden über das Gerümpel.
Wo die Möbel für die letzten Wochen im Heim hingekommen seien, habe einer wissen wollen, die seien teuer gewesen; derweil wurden draußen Bauernmobiliar und Biedermeier zertrümmert. Tja, sagt J., und das enthält alles: Traurigkeit um dieses besondere Leben und seine Spuren, und wie es ist mit Säuen und Perlen. Kann man nichts machen. Keine, wirklich keine bleibende Statt.