In den Sechzigern sei sie Chefsekretärin bei einem großen Konzern am Rhein geworden und in dieser Funktion um die ganze Welt gereist, mit Staatsmännern, Königen und Diplomaten habe sie zu tun gehabt, bevor sie zum Lebensabend in ihr Heimatdorf zurückkam, erzählt J., der die letzten Jahre neben ihr gewohnt hat. Eine alleinstehende Dame, ihr Haus ein Museum an Erinnerungen und Kunst aus aller Welt. Eine regelrechte Bibliothek, eine systematische Mineraliensammlung habe sie gehabt, Fotos von ihren Reisen, aber auch aus den vergangenen hundert Jahren der Familie, Dokumente, Gedichte; manchmal habe sie den Kindern etwas davon gezeigt, die gerne zu ihr hinübergingen, um Geschichten zu hören.
Nach ihrem Tod seien die Erben gekommen, ziemlich entfernte Familie. Eine Woche habe man einen Müllcontainer vor dem Haus gefüllt. Ein jüngerer Verwandter habe Ordner voller Briefe, getippte Korrespondenz aus fünfzig Jahren, wieder herausgeholt – um sie zu verbrennen, wer weiß, was da noch drin ist. Es sei viel geflucht worden über das Gerümpel.
Wo die Möbel für die letzten Wochen im Heim hingekommen seien, habe einer wissen wollen, die seien teuer gewesen; derweil wurden draußen Bauernmobiliar und Biedermeier zertrümmert. Tja, sagt J., und das enthält alles: Traurigkeit um dieses besondere Leben und seine Spuren, und wie es ist mit Säuen und Perlen. Kann man nichts machen. Keine, wirklich keine bleibende Statt.
Traurig, aber gleichzeitig vielleicht genau richtig? Schwer zu entscheiden, wenn man die Person und die näheren Umstände nicht kennt, aber mir scheint, dass es eines Tages bei mir kein Bißchen anders sein wird. Und wenn es ganz schlecht läuft, wird es viel schlimmer, wie bei meinem Vater. Aber wer hat den schon das Glück, die Art und die Umstände seines Todes selber zu bestimmen, insbesondere die Menschen, die einem dabei begleiten? Ich glaube, das schafft kaum eine/r. Was mich wundert: Wie selten Menschen sich umbringen. Jetzt denke ich schon drei Tage an/um diesem Text herum, danke dafür!