Nun also der Anschlag in Halle. Deutschland hat ein Antisemitismus-Problem, steht in Artikeln und Kommentaren, das lese ich auf Blogs und in Essays. Und er werde verharmlost, nicht wahr- oder ernstgenommen, totgeschwiegen. Antisemitismus sei wieder salonfähig.
Ich lese und bin befremdet. Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Ausgerechnet hier.
In meinem realen, lebendigen Umfeld habe ich in der Tat noch nie Antisemitismus beobachtet. Das mag an meinen freundlichen Mitmenschen liegen; es liegt aber ganz sicher auch daran: In meinem Umfeld gibt es keine Juden. Sie sind unsichtbar.
Juden kenne ich aus Geschichten. Ich weiß, wo einmal Synagogen waren und daß man Steine auf die Grabstätten legt; ich besuche Museen und lese die Publikationen der Geschichtsvereine. Ich weiß, wo und wie meine Stadt jüdisch geprägt ist. Die Namen ihrer jüdischen Bürger kenne ich von den Stolpersteinen vor vielen Hauseingängen.
Oft lese ich diese Namen, Geburts- und Todesdaten. Alles andere – Diskriminierung und Schikane, Denunziation, Deportation und Ermordung – muß ich mir ausmalen.
Daß der Antisemitismus erstarkt, macht mich ratlos und traurig. Ich würde gern etwas tun, wenigstens ein Zeichen setzen; doch ich weiß in meinem Hier und Jetzt nicht, wie.
'Unter der Drachenwand' von Arno Geiger ist so intensiv an den Stellen der Vertreibung dass ich aufhören musste zu lesen. Ich feile auch an Zeichen aber es ist schwer. Danke für Ihren Text!
Mir hat die Idee gefallen, eine Menschenkette um die Haller Synagoge zu bilden. Ob man das wirklich getan hat, weiß ich nicht. Allerdings gab es in diesem Zusammenhang auch eine Gegen-Stimme, die ich sehr respektiere: Richard C. Schneider schreibt dazu
Ich kannte in meiner Heimatstadt Juden, aber es war eher ein freundliches Nebeneinanderherleben, genauso wie mit Muslimen.
Antisemitismus ist mitnichten salonfähig. Schauen Sie sich mal im 19. Jahrhundert um. Heute dürfte keiner mehr ungestraft eine Polemik über "Das Judentum in der Musik" vorlegen. Damals aber war er tatsächlich noch salonfähig, der Antisemitismus. Stellen Sie sich nur mal vor, die ZEIT brächte einen Pro-Contra-Artikel zum Judentum heraus. Die eine Seite argumentiert, warum Juden ein wichtiger Teil der Gesellschaft sind, die Gegenseite, warum Juden problematisch sind und nicht dazugehören sollten. So. Stellen Sie sich weiter vor, daß so ein Artikel in der Öffentlichkeit ernsthaft diskutiert würde, ohne daß auch nur mit einem Wörtchen das Blatt diskreditiert oder darauf hingewiesen würde, daß sich auf die antisemitische Haltung einzulassen und dieses Gespräch in aller Ernsthaftigkeit zu führen, bereits inakzeptabel ist. Das wäre salonfähig. Davon sind wir weit entfernt, gottlob.
Ich kenne das auch nicht aus meinem Umfeld, daß man sich irgendwo mit Antisemitismus profilieren könnte (oder auch nur wollte ...). Aber in weit rechten Kreisen natürlich, wie man sieht.
Und die ZEIT: Gab es da nicht mal so was wie pro und contra Seenotrettung (für Flüchtlinge)? Das fand ich ... uff. Für meinen Geschmack waren das Ungeheuerlichkeiten, ganz normal da hingedruckt, als wären es keine. (Die Welt und ein paar andere Blätter sind in der Hinsicht noch schmerzbefreiter.)
Aber die eigentliche Enthemmung zeigt sich ohnehin in den Kommentarspalten, von "man wird doch wohl noch sagen dürfen" und "das war ein Witz/Satire/Ironie" bis hin zu weit rechten Phrasen. Salonfähig ist auf jeden Fall ein Weltbild, das darauf beruht, daß "wir" besser sind als "die", und zwar von Geburt, per Genetik, Kultur, "Nationalität". Und daß "uns" von "denen" Gefahr droht. Und daß da Gewalt nur dem Selbstschutz dient. Das kann man (wieder?) hinschreiben und sagen, ohne daß allzuviel Gegenwind kommt.
Aber das war schon immer salonfähig und zeigt sich, spielerisch, in der Fankultur des Fußballs. Menschen rotten sich zusammen und grenzen sich ab. Das wird ihnen auch nicht abzugewöhnen sein. Und sehen Sie, da haben sie genau das, was ich mit salonfähig meine: die Zeit kann ungestraft so einen menschenverachtenden Unsinn drucken. Mit Juden dürfte sie sich das nicht erlauben. Ich habe auch schon im engsten Kreis Äußerungen gehört wie: "Sollen die doch alle (gemeint waren die Flüchtlinge) absaufen." Über Juden hätte die Betreffende das nicht gesagt. Wir sind hier ja zu recht ziemlich empfindlich, was das Thema angeht, und es wäre wünschenswert, wir würden diese Empfindlichkeit auch auf andere Bevölkerungsgruppen ausdehnen. Offenbar wollen manche die Parallele nicht sehen. Und auch, daß viele Juden deshalb umgekommen sind, weil die umliegenden Länder die Schotten dicht gemacht haben, sollte man nicht vergessen, wenn man das nächste Mal über Flüchtlinge debattiert.
Ich interpretiere übrigens die Man-wird-doch-noch-sagen-dürfen-Phrase als den verklausulierten Wunsch nach Salonfähigkeit der eigenen Meinung. Man darf es ja sagen. Man darf hier zum Glück aus lauter Kehle und im Brustton der Überzeugung den größten Kokolores herausposaunen. Daß man das darf, bedeutet noch nicht, daß es in jedem Salon durchgewinkt würde. Manch einer denkt indes, zur Meinungsfreiheit gehöre auch die jederzeitige Salonfähigkeit der Meinung.
Sicherlich, aber wenn man von jenem Zeit-Beitrag mehr gelesen hätte als nur die ziemlich deppert formulierte Überschrift, hätte man vielleicht schon mitbekommen, dass es klar erkennbar n i c h t um die Frage ging, ob es OK ist, Leute im Mittelmeer absaufen zu lassen.
Zu der Verrohung der Kommunikation, die hier ansonsten völlig zu Recht beklagt wird, trägt nun mal auch bei, dass nicht mehr genau hingeguckt wird, bevor die Empörung überschwappt und Schnellurteile ohne Berufungsmöglichkeit gefällt werden.
Hätte ich die Ausgabe noch, könnte ich Ihnen genauer sagen, was mir damals Bauchschmerzen bereitet hat. Aber Papier ist halt nicht nur geduldig, sondern irgendwann auch Altpapier.
Bauchschmerzen sind eine völlig legitime Empfindung. Ich habe auch nicht mehr die ganze Argumentationskette parat, aber ich erinnere mich sehr genau, dass viele Rezipienten eher reflexartig aufjaulten, aber den Text von Frau Lau offensichtlich nicht gelesen hatten. Mit der fatalen Folge, dass nach diesem massiven Shitsorm im Raum stehen blieb, die Zeit hätte dafür plädiert, Flüchtlinge eim Mittelmeer absaufen zu lassen.
Unbefriedigend, oder? All die Arbeit der Journalisten, und nicht allzu viel später ist davon nur noch ein ziemlich vager Eindruck übrig.