Farbe bekennen, Flagge zeigen, mit den Füßen abstimmen: bei Demonstrationen hilft nur Masse, also gehe ich hin. Ungern. Slogans, egal ob gebrüllt oder auf Plakaten, sind meines nicht; es ist mir zu laut, zu voll, zu ojeoje, aber was muß, das muß.

Während der Kundgebung schaue ich mir die Demonstranten an. Alle Altersgruppen sind vertreten, viele Kinder halten selbstgebastelte Plakate hoch. Danke, ich hab schon gewählt, sage ich dem vielleicht Achtjährigen, der mir Wahlwerbung von den Grünen überreichen will; orr Maaann, zieht er ab – das hat er heute wohl öfter gehört. Ansonsten: grundlegend friedliche Stimmung.

Ein Mann fällt auf mit blütenweißen Socken in Sandalen: er filmt sich vor der bunten Menge und murmelt in sein Mobiltelefon, irgendwas mit "Masken- und Klimagläubigen". Ein "Querdenker" bei der Feindberichterstattung für Telegram? Möglich. Ich nehme an, er wird als Demonstrant gezählt.

Unter Polizeibegleitung geht es los, der Zug ist lang genug, daß ich mich darüber freuen kann. Wer sich nicht freut: die Autofahrer, die länger warten müssen als an jeder roten Ampel. Viele haben nicht mal den Motor ausgeschaltet. Einer hat die Autotür geöffnet und brüllt in irgendeine Richtung: Irgendwann knallt's, klar, wer sich hier im Recht fühlt; aber recht hat er sicher auch.

Ich habe gewählt: Ich setze Hoffnung in Menschen.






Da hat man ihnen Jahrzehnte lang erzählt, dass gutes Handeln, dass Erfolg, dass sich ein gelungenes Leben im Allgemeinen an dem orientiert, was man vorzeigen kann: Haus, Urlaub, Auto. Und dann kommt da eine Generation um die Ecke und stellt das alles in Frage, negiert das sogar vollkommen. »Etwas weniger für alle, dafür mehr für jeden!" Unerhört! Ich denke, dass die Menschen wie die hier geschilderten Autofahrer unter einer gigantischen Verlustangst leiden, weil sie "Gewinn" in anderen Kategorien berechnen. Heraus kommt dabei leider nur noch Aggression. Aber da müssen sie durch. Schön, dass Sie dort waren. Und Parolen mag ich auch nicht.


Haben oder Sein, Zahl oder Mensch? Ich hätte mich gefreut, ein bißchen mehr Mut in den Wahlen zu sehen. Egal welche Farbe die Koalition anlegt: nun wird die Fallhöhe für die Jungen leider noch größer.


Gesamt betrachtet ist das Ergebnis ein einerseits-andererseits. Egal wer dann in welcher Koalition regiert: Das sollte man ernst nehmen und nicht das eine gegen das andere in Front stellen.


Es muss was geschehen, es geht so nicht weiter, wenn es nicht eh zu spät ist. Deshalb ist es gut, dass ich kein Politiker bin, der jetzt die Verhandlungen durchführen muss, ich habe ein zu gutes Gedächtnis. Ich würde z.B. den Herrn Lindner sagen, dass er bleiben kann, wo der Pfeffer wächst, denn "besser nicht regieren, als schlecht regieren": das hat er selber gesagt und schliesst ihn für immer aus. Und dann bliebe nur wieder die GroKo, und diesmal wäre es meine Schuld. Herrn Scholz würde ich CumEx, Korruption, Industriehörigkeit vorhalten, bei den Grünen aufstöhnen und die Augen verdrehen ob der zahlreichen falschen Fronten, die sie eröffnen. Nein, besser ich bin nicht dabei, ich würde nicht zur konstruktiven Stimmung beitragen. Vielleicht übertreffen sie meine Erwartungen. Niedrig genug angesetzt sind sie. Und Ihnen, Frau Lakritze, vielen Dank für Ihren Körnchen Optimismus.


Die Hoffnung, wie es heißt, stirbt zuletzt. Ich hoffe, sie (egal wer) vergeigen's nicht.