Auf dem Vorplatz treffe ich V, der für diesen Tag aus dem Urlaub angereist ist. Wir gehen gemeinsam in die Kirche. Die habe ich, obwohl ich jahrelang fast jeden Tag daran vorbeigefahren bin, noch nie betreten; ein freundlicher, fensterreicher Raum mit Bildschmuck irgendwo zwischen Barock und Klassizismus. Die Urne steht in einem Blumengesteck vorm Altar. Die Reihen sind mit Schwarzgekleideten gefüllt; ganz vorn sitzen T und seine Familie.
Bist du auch evangelisch?, frage ich V, als ich mit Rumms über die Kniebank stolpere. So katholisch, wie es nur geht, flüstert V zurück, und tatsächlich, er weiß, was man singt und antwortet, wann man kniet, wann man ein großes Kreuz vor der Brust schlägt oder ein kleines auf die Stirn zeichnet. Ich kann bloß die liturgischen Worte und ein paar Lieder.
Der Priester zelebriert die Messe mit Abendmahl. Bei der Aussegnung singt er auf Latein und anschließend in einer Sprache, die ich nicht kenne. Es sagt vielleicht weniger über diese Gemeinde, daß ihr Priester Afrikaner ist, aber einiges über die Zeit, daß jetzt die einst in fernen Ländern Missionierten den Betrieb aufrechterhalten. (Ob das ein freudiger Hirtendienst ist unter murmelnden Schafen mit Hörgeräten und Gehstöcken, sei dahingestellt.)
Ich mag, wie er den Namen von Ts Mutter ausspricht. Die Daten und Tatsachen dieses Lebens verknüpft er mit dem Ritus, der den meisten der Versammelten so vertraut ist wie ihre schwarze Kleidung.
Die Zeremonien scheinen mir endlos. Als wir schließlich draußen um das Grab versammelt sind, V und ich im Hintergrund, staune ich: So ein ungewöhnlicher Stein! Das gab bestimmt Ärger. Klar, grinst V, das ist Dorf. Außerdem werden sie hinterher diskutieren, wer eigentlich wir sind.
In den Häusern und Gärten um den kleinen Friedhof herum toben Kinder und Hunde, laufen Fernseher, schwatzen Nachbarn, und ich denke, hier ist die Kirche wirklich im Dorf; und wir sind, so endgültig das hier alles sein mag, umfangen vom Leben.
Sieben Tage zur See – gründlicher kommt man nicht raus aus dem Alltag. Viel essen, wenig schlafen und den ganzen Tag schauen und lernen.
Diese alten Steuermänner: denen geht nichts kaputt. Längst schon Pensionäre, turnen sie in den Wanten herum mit Fitt und Segelmacherhandschuh und lassen sich vom Deck aus bewundern.
Der ewig junge alte Steuermann sagt mir überm Köhm, ich sei seine liebste Rudergängerin, verläßlich präzise, und da werde ich tatsächlich rot.
Einer erzählt, er hätte Depressionen; ein anderer von seiner Herz-OP; eine von ihrer Trennung. Einer sagt: die Wahrheit ist dein Freund. Einer hat der Wahrheit wegen seine Heimat verlassen. Irgendwo dazwischen finden wir uns vermutlich alle.
Ein Landgang reicht, um den Matrosen vom Schiff zu kriegen, aber um das Schiff vom Matrosen zu bekommen, braucht es vier, fünf Waschgänge und zwei Wochen Zeit.
Zwei Wochen lang hat mein Festland Seegang, und in meinen Händen fühlt sich alles zart und samtig an, was nicht Tau ist. Zwei Wochen träume ich jede Nacht vom schönsten Schiff der Flotte.
(Und dann ist da noch das Stück Schiff, das abgegriffene Werkzeug, das ich eingesteckt und nicht wieder an seinen Platz getan habe; das liegt wunderbar in der Hand und peinlich auf meinem Gewissen. Das werde ich sicher zurückbringen, sobald es nur geht.)
Auf dem Weinmarkt in M., sagen die Einheimischen, regnet es immer, wohingegen auf dem Weinfest von W., auf der falschen Flußseite, immer die Sonne scheint. Na, sagen wir, dieses Jahr ist Regen so gut wie ausgeschlossen, und begeben uns in den Stadtpark zu den Buden und Bühnen.
Man muß viel Volks abkönnen auf einem solchen Fest, aber die umgänglichen Leute in M. machen's uns leicht. Der Rasen ist zundertrocken, auf jeder halbwegs ebenen Fläche stehen Bierzeltgarnituren, und es herrscht freundliches Gesumm unter den alten Bäumen. Im Westen ist der Himmel schwarz.
Mit Einbruch der Dunkelheit stellen wir uns an den Parkrand, der Blick reicht weit. Nördlich beleuchtet der Sonnenuntergang Kumuluswolken, eine Aufführung für Stratosphärengäste. Plötzlich schwankt die Luft, dann fährt ein Wind in die Baumkronen und zaust ihnen die trockenen Blätter aus; die wirbelt er hinaus, hinüber Richtung Fluß, und während ich in den Himmel schaue, trudeln unendlich viele Lindensamen an ihren hellen Segelblättern vorüber, propellern in die Dämmerung. Dann fallen die ersten Tropfen.
Seither sind die Nächte kühler und merklich länger.
R ist da, aus England, mit T, seiner britischen Frau. Ihn kenne ich seit Ewigkeiten, sie fast gar nicht, und wir haben uns seit Jahren nicht gesehen.
Wie schön, sagt R, daß deine Telefonnummer sich nie ändert. Er ist dünner geworden und vielleicht etwas grauer. Für seinen Beruf muß er viel reisen, wochenlang, auf sämtliche Kontinente. Jetzt sind T und er für ein Wochenende bei Rs Eltern auf dem Dorf.
Ah, that's life, seufzt T, als wir im Getümmel der Innenstadt Kaffee trinken. What a beautiful place. Sie setzt die Sonnenbrille auf. Morgen geht es weiter nach Berlin, sie freut sich darauf; auf die englischsprachige Subkultur dort.
Später erzählt R mir, daß T davon träumt, sich in Europa niederzulassen. Italien vielleicht, oder vielleicht doch Deutschland. Ruhig auf dem Lande, nahe einer Metropole, Hauptsache dicht an einem internationalen Flughafen. R hebt die Schultern. Sein Telefon klingelt, die Arbeit. Ich mag sein Englisch, dem man sein Heimatdorf anhört. T berichtet von dem Hoffest, zu dem sie spontan eingeladen wurde (just as in my student days!); sie entschuldigt sich, daß sie immer noch kein Deutsch kann. Über Politik reden wir nicht.
R könnte deutlich mehr verdienen, sagt er. Er scheint schuldbewußt, daß er zufrieden ist. Eigentlich, sagt er, lebe er über seine Verhältnisse ...
Wir verabschieden uns. T ist angenehm zu umarmen. Let's get together in December! Sie hat beschlossen, Weihnachten nicht bei ihrem hochbetagten Vater zu verbringen, sondern bei Rs Familie. Auch wenn die es nicht schätzt, daß die Schwiegertochter katholisch ist. You know how it is; aber nein, das weiß ich nicht.
Die zwei verschwinden im Gewühle auf dem Marktplatz. Ich nehme an, man müßte sie, daß sie zur Ruhe kämen, niederschlagen.
Ich sitze gerne ohne Brille in Cafés, neuerdings. Da weichen dann die Wände ins Unbestimmte zurück, und wie im Aquarium bestaune ich die Wesen:
Das ohne Beine, das eilig über den Steinboden gleitet und sich zu den Zwillingen beugt, die, die Brillen stets im gleichen Lichtstrahl blitzend, an der Hüfte verwachsen sein müssen und später im Gleichtakt, eins mit links, eins mit rechts, weiße Gefäße zum Munde führen. Der Priester in Zivil, dem eben das Haupt des Täufers gebracht wird, das er mit huldvoller Handbewegung akzeptiert. Die Dame im dramatischen Gewand und dem mondleuchtenden Gesicht, unter deren Fuß eine kleine Robbe liegt, die wiederum einen entferntern Herrn anschmachtet, mit Hut oder Haar und einer ganzen Familie von Gepäck. Oh, und die Rätsel im Leuchten der Glastheke: Blumengestecke, Bücherstapel, Korallenriffe ...
(In Wahrheit kann ich schlicht mit Brille nicht mehr scharf essen, geschweige denn lesen. Ach & je.)