R ist da, aus England, mit T, seiner britischen Frau. Ihn kenne ich seit Ewigkeiten, sie fast gar nicht, und wir haben uns seit Jahren nicht gesehen.
Wie schön, sagt R, daß deine Telefonnummer sich nie ändert. Er ist dünner geworden und vielleicht etwas grauer. Für seinen Beruf muß er viel reisen, wochenlang, auf sämtliche Kontinente. Jetzt sind T und er für ein Wochenende bei Rs Eltern auf dem Dorf.
Ah, that's life, seufzt T, als wir im Getümmel der Innenstadt Kaffee trinken. What a beautiful place. Sie setzt die Sonnenbrille auf. Morgen geht es weiter nach Berlin, sie freut sich darauf; auf die englischsprachige Subkultur dort.
Später erzählt R mir, daß T davon träumt, sich in Europa niederzulassen. Italien vielleicht, oder vielleicht doch Deutschland. Ruhig auf dem Lande, nahe einer Metropole, Hauptsache dicht an einem internationalen Flughafen. R hebt die Schultern. Sein Telefon klingelt, die Arbeit. Ich mag sein Englisch, dem man sein Heimatdorf anhört. T berichtet von dem Hoffest, zu dem sie spontan eingeladen wurde (just as in my student days!); sie entschuldigt sich, daß sie immer noch kein Deutsch kann. Über Politik reden wir nicht.
R könnte deutlich mehr verdienen, sagt er. Er scheint schuldbewußt, daß er zufrieden ist. Eigentlich, sagt er, lebe er über seine Verhältnisse ...
Wir verabschieden uns. T ist angenehm zu umarmen. Let's get together in December! Sie hat beschlossen, Weihnachten nicht bei ihrem hochbetagten Vater zu verbringen, sondern bei Rs Familie. Auch wenn die es nicht schätzt, daß die Schwiegertochter katholisch ist. You know how it is; aber nein, das weiß ich nicht.
Die zwei verschwinden im Gewühle auf dem Marktplatz. Ich nehme an, man müßte sie, daß sie zur Ruhe kämen, niederschlagen.
Ich sitze gerne ohne Brille in Cafés, neuerdings. Da weichen dann die Wände ins Unbestimmte zurück, und wie im Aquarium bestaune ich die Wesen:
Das ohne Beine, das eilig über den Steinboden gleitet und sich zu den Zwillingen beugt, die, die Brillen stets im gleichen Lichtstrahl blitzend, an der Hüfte verwachsen sein müssen und später im Gleichtakt, eins mit links, eins mit rechts, weiße Gefäße zum Munde führen. Der Priester in Zivil, dem eben das Haupt des Täufers gebracht wird, das er mit huldvoller Handbewegung akzeptiert. Die Dame im dramatischen Gewand und dem mondleuchtenden Gesicht, unter deren Fuß eine kleine Robbe liegt, die wiederum einen entferntern Herrn anschmachtet, mit Hut oder Haar und einer ganzen Familie von Gepäck. Oh, und die Rätsel im Leuchten der Glastheke: Blumengestecke, Bücherstapel, Korallenriffe ...
(In Wahrheit kann ich schlicht mit Brille nicht mehr scharf essen, geschweige denn lesen. Ach & je.)
Ist Wanderlust ausstellbar? Wie soll man dieses frohe Jucken in den Gelenken zeigen, das innerliche Hüpfen angesichts einer roten Linie durch viel Grün auf der Karte, wie das Ja zum Rucksack und zum unbequemen Schlafplatz, wie die Freude am Verschwinden?
Friedrich und Carus haben einen Teil davon gemalt in Rückansichten kleiner Gestalten in großer Natur. Ein bißchen Kitsch ist es schon; aber dieser hier stimmt halt auch. Junge Leute fotografieren mit ihren Telefonen die Gemälde samt Goldrahmen.
Ich bleibe lange in den hohen Räumen. Es sind viele Besucher hier. Das Parkett knistert knochentrocken. Ein Bild zeigt ein Bergpanorama mit Jägern (überhaupt werden hier viele Jäger als Wanderer verkauft); am Bergsee trinkt ein Hund mit rosa Zunge. Auf einem anderen betrachtet den halbnackt am Weg Hingesunkenen sinnend ein Geier: "Sterbender Wanderer".
Einiges an Bildbeschilderung schien mir entbehrlich: Links erhebt sich schroff ein Bergmassiv, vor dem die Wanderer ganz verloren aussehen, nun ja. Dafür hätte ich gern mehr Skizzenbücher gesehen. Kleidung und Schuhwerk sind zumeist idealisiert dargestellt oder generisch; fündig werde ich bei Kramskoj.
Auf dem Rückweg durch die Dauerausstellung komme ich an einem Porträt vorbei. Es heißt "Ave, Caesar, morituri te salutant" und zeigt Kopf und Brust einer ernst dreinblickenden großen Dogge, der quer über der Nase eine Kette Würste hängt.
Vierunddreißig Grad im Schatten, dreißig im Haus; Kleidung unaussprechlich und als Tagesration Wassermelone, eine, ganz.
Die sind aber früh dran, sage ich zu M, als wir bergauf vor der Hitze Richtung Wald stapfen; aber Sonne hatten sie schon fast genug. Hoch sitzen sie im verschlissenen Dornengezweig, das Neueste, Glänzendste in der Hecke, und ziehen den Blick auf sich.
Trotz brennender Sonne bleiben wir stehen. Einen Schritt in die grasige Böschung, strecken, denn die oberen sind am besten, und dann vorsichtig die pflücken, die sich schon pflücken lassen und noch nicht zerplatzen. Zur Hälfte sind sie sonnenwarm. Jede Beere eine Überraschung auf der Zunge: süß, sauer, nach Leder, nach früher, nach mehr. Mit dunkelroten Lippen und zerkratzten Armen raken wir immer wagemutiger; es ist schwer, aufzuhören. Besonders gelungene Exemplare tauschen wir aus.
Auf dem Rückweg ist es dann zu heiß zum Stehenbleiben. Die Ebene liegt flimmernd vor uns. Von hier oben sehen noch die Industrieanlagen schön aus; nur bei Logistikzentren ist wohl wirklich nichts zu machen.