Gegen Abend Sängerwettstreit zweier Amseln in der Stadt, über den Lärm der Straße hinweg.
Von einer Sekunde auf die andere bin ich wach: Das Geräusch war der Schlüssel, das war das Schloß, das war, wie einer die Tür aufmacht und in die Wohnung tritt. Jetzt: Stille. H. ist schon aus dem Bett gesprungen und stürmt auf den Flur. Was machen Sie hier, höre ich ihn donnern, wie kommen Sie hier rein? Ausflüchte, leiser, eine Männerstimme: in der Wohnung geirrt, und Beschwichtigungen: alles gut. Rückzug, Türenklapp.
Der stand hier, im Dunkeln, an der Tür! H. dreht eine Runde durchs Haus und kommt gleich wieder. Nein, niemand mehr zu finden. Dann läßt er den Schlüssel innen stecken. Es ist halb fünf.
Um kurz nach acht, noch vorm Kaffee, hat H. ein neues Schloß besorgt und eingebaut. Wir telefonieren herum. Der Hausmeister: war's nicht. Der Hüter des Ersatzschlüssels: hat ihn noch. Die Polizei: sagt, da kann man wohl nix weiter tun. Es ist elf Uhr.
Heller Tag, als es an der Tür klingelt. Draußen steht ein junger Mann, den wir noch nie gesehen haben. Äh, ja, er wolle sich wegen heute nacht entschuldigen ... Er habe beim Nachbarn eins drüber übernachten wollen, war morgens leicht angesäuselt von einer Party zurückgekommen, habe aufgeschlossen und sich erst mal nicht mehr ausgekannt. Und während sein Hirn noch nach einer Erklärung für die neue Flureinrichtung kramte, kam plötzlich ein Fremder auf ihn zugeschossen ... Den Rest der Geschichte kennen wir.
Ich bin erleichtert, heißt das doch, daß nicht irgendwelche Leute mit meinem Schlüssel durch die Stadt spazieren. Andererseits scheint es, als hätten wir im Haus ein Einheitsschloß ...
Na, jetzt nicht mehr. Zum neuen Jahr also ein schwererer Schlüsselbund. Und der neue Schlüssel läßt sich zweimal umdrehen, sogar.
Schnee macht schön: ist das wirklich dieses struppige Gehölz am Stadtrand? Die sterilen Vorgärten sind weich zugedeckt, alle alten Obstbäume mit Rheumadecken versorgt. Häuser kuscheln sich im Bett aus Feldern zusammen, jedes Dach eine Handvoll Himmel, die Ferne wie Rauch. Mein Buch bleibt zu auf dieser Zugfahrt: so erfreulich habe ich die alte Heimat schon lange nicht mehr gesehen.
Es knackt unter meinen Schritten und knistert auf dem Regenschirm; sonst ist das Städtchen so still, wie das nur der erste Schnee des Jahres hinbekommt. Auf Mäuerchen, in Einfahrten stehen weiße Gestalten, manche gerade eine Spanne groß, manche ausgewachsene Schneemänner samt Rübennase.
Am schönsten ist die Aussicht übers Land aus dem achten Stock, so was haben hier nur Krankenhäuser. Trotzdem mag ich da nicht hin. Auch nicht, ach was: schon gar nicht als Besucherin.
Mich bekümmert, daß ich nicht an C.s Todestag gedacht habe; es war ja dieses Jahr wie als er starb: ich war unterwegs, noch ein wenig loser in der Zeit als ohnehin. Aber so viele andere haben ihn nicht vergessen. So vielen fehlt er.
Als ich H. jüngst besuchte, war sein Bücherschrank geplündert; ein Stapel Bücher lag im Flur, falls die jemand brauchen kann. Nie würde sie, sagte H., Dinge wegwerfen, die ihm wichtig gewesen wären. Ich war wohl schroff. Die Bücher trug ich zurück in C.s Arbeitszimmer: dieses hatte ein Freund geschrieben, jenes paßte dazu; mit diesen hatte er sich weiter eingearbeitet ... Buch für Buch stellte ich die Geschichte von C.s Interessen, eine brauchbare kleine Bibliothek, zurück in die leeren Fächer.
Dabei weiß ich ja, H. ist auch nur traurig.
Schon auf dem Weg zum Bahnhof muß ich mehrfach Menschen freundlich, aber bestimmt abwimmeln. Ist das die kalte Jahreszeit, oder wirke ich, wenn ich besonders ungesellig bin, besonders ansprechbar?
In der Sitzgruppe vor mir packt eine Frau mit Puppengesicht Tuben, Tiegel, Pinsel, Bürstchen, Spiegel und Lampe aus und deckt damit den Tisch vor sich ein. Dann hantiert sie nach offenbar festem Plan mit Farben und Pulvern, pinselt sich bald großflächig, bald detailliert im Gesicht herum, streicht, sprüht, zupft, tupft, schattiert, eine ganze Stunde lang; am Ende nimmt sie aus einem Kästchen ein Paar glanzgebürsteter schwarzer Raupen, bestreicht sie mit Leim und klebt sie sich an die Lider. Natürlich schaue ich hin, als sie sich in meine Richtung dreht: über ihr Puppengesicht hat sie sich ein weiteres Puppengesicht gemalt. Als sie den Waggon verläßt, ist ihr jede Oberfläche ein Spiegel.
Im meinem Koffer das Weihnachtsgeschenk des Jahres (ganz sicher): ein walnußgroßer Kieselstein. Das Konzept gefällt mir sehr.
Und Schnee. Schnee zum ersten Advent.