Mich bekümmert, daß ich nicht an C.s Todestag gedacht habe; es war ja dieses Jahr wie als er starb: ich war unterwegs, noch ein wenig loser in der Zeit als ohnehin. Aber so viele andere haben ihn nicht vergessen. So vielen fehlt er.

Als ich H. jüngst besuchte, war sein Bücherschrank geplündert; ein Stapel Bücher lag im Flur, falls die jemand brauchen kann. Nie würde sie, sagte H., Dinge wegwerfen, die ihm wichtig gewesen wären. Ich war wohl schroff. Die Bücher trug ich zurück in C.s Arbeitszimmer: dieses hatte ein Freund geschrieben, jenes paßte dazu; mit diesen hatte er sich weiter eingearbeitet ... Buch für Buch stellte ich die Geschichte von C.s Interessen, eine brauchbare kleine Bibliothek, zurück in die leeren Fächer.

Dabei weiß ich ja, H. ist auch nur traurig.





Schon auf dem Weg zum Bahnhof muß ich mehrfach Menschen freundlich, aber bestimmt abwimmeln. Ist das die kalte Jahreszeit, oder wirke ich, wenn ich besonders ungesellig bin, besonders ansprechbar?

In der Sitzgruppe vor mir packt eine Frau mit Puppengesicht Tuben, Tiegel, Pinsel, Bürstchen, Spiegel und Lampe aus und deckt damit den Tisch vor sich ein. Dann hantiert sie nach offenbar festem Plan mit Farben und Pulvern, pinselt sich bald großflächig, bald detailliert im Gesicht herum, streicht, sprüht, zupft, tupft, schattiert, eine ganze Stunde lang; am Ende nimmt sie aus einem Kästchen ein Paar glanzgebürsteter schwarzer Raupen, bestreicht sie mit Leim und klebt sie sich an die Lider. Natürlich schaue ich hin, als sie sich in meine Richtung dreht: über ihr Puppengesicht hat sie sich ein weiteres Puppengesicht gemalt. Als sie den Waggon verläßt, ist ihr jede Oberfläche ein Spiegel.

Im meinem Koffer das Weihnachtsgeschenk des Jahres (ganz sicher): ein walnußgroßer Kieselstein. Das Konzept gefällt mir sehr.

Und Schnee. Schnee zum ersten Advent.





Lebkuchenland, natürlich; die ganze Stadt wirkt wie gebacken. In alten Modeln, doch der Stein scheint neu; zumindest frisch gekärchert. In sich selbst konserviert, steckt die Altstadt in einem Festungsmauerring. Hier und da schauen Giebel drüber weg, hier und da die Stirnen neuer Bauten. Schwer zu entscheiden, ob das idyllisch ist oder bedrückend. Ruhiger jedenfalls – vor der Maueranlage rauscht vielspuriger Verkehr.

Drinnen ist es wirr, Straßen, Gassen, Gäßchen, Plätze – Mittelalter rangelt mit StVO. Ich suche die Lebküchnerei Düll und werde mehrfach im Kreis geschickt; kein Wunder, hier grenzt der Ludwigs- an den Jakobs- an den Josephsplatz. Irgendwann treffe ich einen, der nicht bloß hier wohnt, sondern auch einen satellitengespeisten Stadtplan in der Tasche hat.

Zurück in meiner Stadt, beim Verlassen des Bahnhofsgeländes, gerate ich in einen Gegenstrom rennender Männer in farbigen Schals: direkt in meinem Weg hat sich soeben ein Fußballfanbus entleert. Dann geht es nicht mehr weiter: eine Kette von Gepanzerten versperrt den Durchgang; einer brüllt: Zurück! Durchs Bahnhofsgebäude gehen!

Ich weise auf mein Gepäck, nein, ich bin kein Fußballfan, ich möchte zur Tram da drüben, aber ich werde angebrüllt: Zurück! Ich bleibe stehen, wie noch einige andere Reisende. Die Tram verpassen und mich anschreien lassen? Als der Fanbus wegfährt, entweichen wir durch die entstandene Lücke. Lass sie laufen, höre ich es hinter mir.

Die Lebkuchen, später, schmecken ausgezeichnet.





Paukenschlag, volles Orchester, Chor: ... statu variabilis ... Das Kind sitzt auf der Stuhlkante und späht in den Orchestergraben. So viele Instrumente! Liebesgeplänkel interessiert es nicht so; bei den Tanzstücken wippt es mit. Nachher wird es ganz erledigt sein von dem Lärm und der Aufregung und dem Applaus, aber für einen bewundernden Blick in die Kuppel des Foyers wird's noch reichen.

Vorm Theater wartet dann der Tag in Winterkleidung.

Der Himmel ist glasklar, von Flugzeugen bekritzelt, und über seine Fläche schiebt sich eine Kranichkette; ihr helles Getröt mischt sich mit dem Läuten der Kirchenglocken. Eine Seite des Vogel-Vs löst sich auf, gerät in Verwirrung, die Tiere finden sich zu kleineren Formationen und lassen sich weiter ziehen von den Fernen. Wir drunten in der Stadt aber müssen schlucken, wie wenig wir Flügel haben.

 

Nachtrag: Großen Spaß macht das hier – 70er-Jahre-Carmina, nach Orffs Vorstellungen umgesetzt. (Bildqualität auf der DVD natürlich besser.)





Friede, Freude, Eierschecke! Es wurden nicht Kosten noch Mühen gescheut, und nun wälzt sich das Volk durch die Innenstadt, drängt sich in Buden, läßt sich belustigen und informieren, Kameras, Würstchen und Bierbecher stets im Anschlag. Hier bißchen Musik, da bißchen Technik, Klosterbrot, Handwerksbier und Beta-Prominenz – man zeigt, was man hat. Es herrscht friedliche Stimmung. Die Menge schiebt sich von Bühne zu Bühne mit Kind und Kegel, und alle paar Sekunden macht sich ein Ballon los und schwebt davon, anderswo einen Vogel ersticken.

Zur Sicherheit ist die Stadt für den Alltag gesperrt. Betonklötze und quergestellte Einsatzfahrzeuge verschließen die Verkehrsadern, Kameras überwachen, an manchen Zelten wird gefilzt. Das stört nicht sehr, denn selbst die Polizei scheint guter Laune.

Am schlimmsten, sagen die Leute, ist, daß man nirgends mit dem Auto hinkommt. Aber, doch, ein schönes Fest, so insgesamt betrachtet.