Dieses fremdartige kleine Land mit dem i-Überschuß, in dem sogar Industriegebiete niedlich aussehen. Freundliche Menschen hier, Fußgängerampeln mit Gelbphasen, immergrünes Gras unter immerblauem Himmel, und an den Rändern die Berge, daß man's nicht für möglich hält.
(Meine Unterkunft teile ich mit einem gewaltigen Flachbildschirm, einem Kronleuchter und einem Laubhaufen, der vorgibt, er sei ein Teppich, und zu dessen Zimmer ich die Tür geschlossen halte. Ich würde den Flachbildschirm gern verhängen, aber ich brauche die Bettdecke selbst. Nun tue ich so, als schaue er nicht, während ich in einem Bett, gletscherweiß und groß wie ein halber Kanton, herumrutsche auf der Suche nach einem Schlafplatz, über dem der Kronleuchter nicht hängt. Aber das Essen ist vorzüglich, Nervennahrung erster Güte.)
Eine Zugezogene sagt: die Natur hier ist toll. Bloß kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, alles sei, bis hinauf zu den Schneegipfeln, geplant und angelegt und werde regelmäßig geputzt und gewartet. Das heißt wohl, daß ich mir das Land dringend näher anschauen muß.
Es fallen die Feste: Vier Generationen füllen eine enge Gaststube, und die Vorstellung der Familie als Baum wird überdeutlich. Die langlebigen Zweige, die fruchtbaren, die abgestorbenen ... 95 wird die Matriarchin, frisch und präsent, nur das Augenlicht hat nachgelassen. Sie geht herum und begrüßt alle; manche erkennt sie erst an der Stimme. Sie ist, was sie immer war: mittendrin. Ihre Sachlichkeit und ihre Backkünste sind Legende. Erfüllt ist das Wort, das man lächelnd denkt, wenn man ihr begegnet. Und wünscht: daß es so bleibt, daß das Zerbrechliche des Lebens ausnahmsweise nicht zerbricht. Daß das Ende freundlich naht und nicht zaudert.
Auch der Schriftsteller feiert Geburtstag. Im Wohnzimmer seines Elternhauses stelle ich fest, daß ich hier schon einmal gewesen sein muß. Keiner fragt mich, woher ich ihn kenne; ich könnte es ohnehin nicht sagen. Ob er's noch weiß? Ich sehe ihn zwischen seinen Gästen, mir fast sämtlich unbekannt; mit jedem von ihnen verbinden ihn Geschichten. Das sind starke Fäden. Ein ganzes Haus, ein ganzer Garten voller guter Geschichten, was sollte ein Schriftsteller mehr wollen?
Das Sonnenjahr geht in sein letztes Viertel. Ich habe keine Blumen verschenkt.
Politiker zeigen Zähne: an den Pfosten in der Stadt sprießen die Wahlplakate.
An der Außenwand der Seniorenresidenz hat sich eine Schar bunter alter Damen eingefunden, mit Turnschuhen und Schweißbändern, und macht, die Walking-Stöcke an die Mauer gelehnt, synchrone Dehnübungen. Etwas abseits ein junger Mann, der die Szene verstohlen fotografiert. Auf der anderen Straßenseite ich, die ihn beim Fotografieren beobachtet, um darüber zu schreiben.
Derweil verfolgt mich ein Bild, das ich auch nur gelesen habe, zwei, drei Sätze, eine Gestalt aus Vergangenheit; und ich frage mich, kopfschüttelnd, wie wenig es braucht. Manche verlieben sich in Geschichten, bei mir reicht schon eine Assoziation.
Auf der Suche nach drei Zeilen, sie zu bebildern. Schwerer als man denkt. Alles auf Anfang; nehmen, was kommt. Weitersuchen.
Ich lebe mittendrin, in einer Gegend der Seitengassen, der Wohnhäuser mit Ladenlokalen im Erdgeschoß; in jeder Straße muß es einmal einen Bäcker, einen Metzger, ein Geschäft des täglichen Bedarfs gegeben haben. Schon als ich herzog, standen die meisten davon leer.
Die, die es noch gab, haben mich entzückt: die Bäckerei, das Kleidergeschäft mit der eigenen Schneiderei, das Reisebüro (wirklich! ein Reisebüro!), der Weinladen, ein Herzblut-Geschäft, das vollkommen zeitgeistfreie Café, das Fotokopiergeschäft mit dem betagten Maschinenpark.
Jede Woche habe ich Verluste zu beklagen. Geschäft um Geschäft macht zu; Ladenlokale werden bestenfalls in Büros und Wohnungen, schlimmstenfalls in Spielcasinos verwandelt. Hier und da gibt es kurzlebige Neugründungen. Übernahmen bestehender Läden gibt es kaum; wer will schon zu miserablem Stundenlohn im eigenen Geschäft stehen und hoffen, daß er die Miete zusammenbekommt?
Es sind ja nicht die zahlungskräftigen Unternehmen, sondern genau diese kleinen Läden, die der Stadt ihr Gesicht geben und sie lebenswert machen. Es kommt nichts Neues nach. Mein Viertel stirbt.
(Immer verliebe ich mich in Orte; und dann brechen sie mir das Herz.)
Daß man goldene Hochzeiten mit einer Zeremonie in der Kirche feiert, hatte ich nicht gewußt. Auch nicht, daß man, ehe man von amtlicher Seite eine Urkunde überreicht bekommt, gefragt wird, ob man das überhaupt möchte – für den Fall, daß man nur noch auf dem Papier verheiratet ist, oder daß einer krank liegt. Ein seltener Fall von Takt in Amtsdingen; in fünfzig Jahren kann, neben der Gewöhnung, viel passieren.
Das Jubelpaar gibt ein Fest und läßt sich feiern. Sie haben sich schön gemacht, eine Schönheit, die mit dem Leben zu tun hat. Wie sie da sitzen, weiß und nicht mehr ganz gerade, und Glück- und Segenswünsche entgegennehmen, müssen sie sich nicht anschauen; später, beim Tanzen, sehen sie niemanden sonst. Sie sind eigen, jedes für sich, aber zufrieden miteinander. Das, und dankbar. Es hätte einiges schiefgehen können.
Ich verstehe, daß um einen solchen Jahrestag Aufhebens gemacht wird. Im Gegensatz zu einer Heirat ist ein Zusammenleben über fünfzig Jahre, in guten wie in schlechten Tagen, keine geringe Leistung.
Ich ziehe den Hut.