Ich lebe mittendrin, in einer Gegend der Seitengassen, der Wohnhäuser mit Ladenlokalen im Erdgeschoß; in jeder Straße muß es einmal einen Bäcker, einen Metzger, ein Geschäft des täglichen Bedarfs gegeben haben. Schon als ich herzog, standen die meisten davon leer.

Die, die es noch gab, haben mich entzückt: die Bäckerei, das Kleidergeschäft mit der eigenen Schneiderei, das Reisebüro (wirklich! ein Reisebüro!), der Weinladen, ein Herzblut-Geschäft, das vollkommen zeitgeistfreie Café, das Fotokopiergeschäft mit dem betagten Maschinenpark.

Jede Woche habe ich Verluste zu beklagen. Geschäft um Geschäft macht zu; Ladenlokale werden bestenfalls in Büros und Wohnungen, schlimmstenfalls in Spielcasinos verwandelt. Hier und da gibt es kurzlebige Neugründungen. Übernahmen bestehender Läden gibt es kaum; wer will schon zu miserablem Stundenlohn im eigenen Geschäft stehen und hoffen, daß er die Miete zusammenbekommt?

Es sind ja nicht die zahlungskräftigen Unternehmen, sondern genau diese kleinen Läden, die der Stadt ihr Gesicht geben und sie lebenswert machen. Es kommt nichts Neues nach. Mein Viertel stirbt.

(Immer verliebe ich mich in Orte; und dann brechen sie mir das Herz.)





Daß man goldene Hochzeiten mit einer Zeremonie in der Kirche feiert, hatte ich nicht gewußt. Auch nicht, daß man, ehe man von amtlicher Seite eine Urkunde überreicht bekommt, gefragt wird, ob man das überhaupt möchte – für den Fall, daß man nur noch auf dem Papier verheiratet ist, oder daß einer krank liegt. Ein seltener Fall von Takt in Amtsdingen; in fünfzig Jahren kann, neben der Gewöhnung, viel passieren.

Das Jubelpaar gibt ein Fest und läßt sich feiern. Sie haben sich schön gemacht, eine Schönheit, die mit dem Leben zu tun hat. Wie sie da sitzen, weiß und nicht mehr ganz gerade, und Glück- und Segenswünsche entgegennehmen, müssen sie sich nicht anschauen; später, beim Tanzen, sehen sie niemanden sonst. Sie sind eigen, jedes für sich, aber zufrieden miteinander. Das, und dankbar. Es hätte einiges schiefgehen können.

Ich verstehe, daß um einen solchen Jahrestag Aufhebens gemacht wird. Im Gegensatz zu einer Heirat ist ein Zusammenleben über fünfzig Jahre, in guten wie in schlechten Tagen, keine geringe Leistung.

Ich ziehe den Hut.





Er meint, heute habe er noch niemanden umgebracht. (Nur einen erpreßt und Intrigen gesponnen; und ein Gemetzel vorbereitet, immerhin.) Na, der Arbeitstag ist noch nicht vorbei.

T. ist ein sehr guter Erzähler und ein Quell erstaunlicher Geschichten. Ich höre ihm gerne zu. Hin und wieder kann ich sagen: ah, das kenne ich; so war das also. Er lebt ein paar Jahre länger und ist viel tiefer in der Gegend verwurzelt als ich.

Als ich einmal wissen wollte, was er mit all diesen Geschichten mache, meinte er, wahrscheinlich nichts; die seien nichts Halbes, nichts Ganzes, und für seine Bücher taugten sie nicht.

Die Erinnerung eines Einzelnen läßt sich im Handumdrehen, vielleicht durch einen einzigen auf den Sperrmüll gestellten Koffer, auslöschen. Eine Generation ist schwer entzifferbar schon für die, die ihr folgt. Auch die Erinnerung an Kulturen, die ein paar tausend Jahre zurückreicht, kann Menschenhand zerstören; selbst Paläontologen werden von Baggern sehr unglücklich. Lediglich Geologen bewegen sich auf einigermaßen sicherem Terrain; Erdschichten ändern sich (noch) nicht so leicht ...

Ich mag T.s erdachte Geschichten, aber ich finde es schade um die, die außer ihm niemand erzählen kann.





Als die Durchsage kam: nächster Halt in G., schaute ich von meiner Lektüre auf.

G. ist irgendein Dörfchen, aber den Bahnhof kenne ich gut; Stunden habe ich da gewartet zu allen Tages- und Jahres-, in guten wie in schlimmen Zeiten. Das Bahnhofsgebäude, solide aus dem Sandstein der Gegend gebaut, hatte ich gemocht; ich erinnere mich an Fensterläden und eine hölzerne Schubkarre mit großer Ladefläche, auf der ich manchmal im Schatten saß, nachdem der Wartesaal geschlossen worden war. Jemand hatte darauf Töpfe mit Blühpflanzen gepflegt.

Heute sah ich aus dem Zugfenster und erkannte – nichts. Gar nichts. Es gibt kein Gebäude, keine Überdachung an den Bahnsteigen, nicht einmal die Bahnsteige selbst gibt es mehr. Aus dem Bahnhof G. ist ein Haltepunkt geworden; meine Erinnerungen haben einen Halt verloren.





Auf dem Weg ein Unfall; mehrere Rettungswagen und drei, nein, vier zertrümmerte Motorräder in der Zubringerschleife. Ich zucke zusammen. Mir fallen die häßlichen Kommentare von Ärzten ein: "supereilige Spenderorgane"; eisern Abstand halten, nicht daß man noch Hilfe leisten muß. Der Junge aus meinem Ort, der keine sechzehn wurde. Als das Auto vor mir abbremst und der Fahrer sich fast aus dem Fenster hängt, um besser zu sehen, werde ich wütend.

In M. die alte Besetzung: die sanfte B. mit ihren bedächtigen Bewegungen, deren Lächeln schön ist wie ein langer Sommerabend, und J., der mir seine neue Visitenkarte zusteckt – die Probezeit ist um. Im Garten gedeihen Häuser, die Mädchen jagen sich in der Scheune, der ältere Vetter zeigt einen Maori-Kriegstanz, die Sauerkirschen sind durch, die Nußernte droht bombastisch zu werden. Wieder ein Jahr, sagt B., und ich sehe eine Spur Traurigkeit in ihrem Blick.

Der Neuzugang am Kaffeetisch ist Teil einer ganz jungen Liebe von Mitte siebzig. Sie hat lange schon nicht mehr so gestrahlt; immerzu liegt seine Hand auf ihrem Bein oder in ihrem Rücken. Er verwöhnt mich, sagt sie; noch nie hat mich ein Mann verwöhnt. Daß sie nach einem halben Jahr schon heiraten wollen, klingt verflixt nach einem alten Fehler, aber was sollte man sagen? In unserem Alter, sagt er, belügt man sich nicht mehr. Und wer weiß, wieviel Zeit ihnen bleibt?

Es wird zum Abend etwas kühler, und die Fliegen drehen auf. So ist das auf dem Lande, sagt J., läßt sich noch ein Bier reichen und schaut zufrieden über die Kaffeetafel, die Baustellen, den Hof voller Sonne und Leben. Wieder ein Jahr. Es wächst, es wird.