Er meint, heute habe er noch niemanden umgebracht. (Nur einen erpreßt und Intrigen gesponnen; und ein Gemetzel vorbereitet, immerhin.) Na, der Arbeitstag ist noch nicht vorbei.
T. ist ein sehr guter Erzähler und ein Quell erstaunlicher Geschichten. Ich höre ihm gerne zu. Hin und wieder kann ich sagen: ah, das kenne ich; so war das also. Er lebt ein paar Jahre länger und ist viel tiefer in der Gegend verwurzelt als ich.
Als ich einmal wissen wollte, was er mit all diesen Geschichten mache, meinte er, wahrscheinlich nichts; die seien nichts Halbes, nichts Ganzes, und für seine Bücher taugten sie nicht.
Die Erinnerung eines Einzelnen läßt sich im Handumdrehen, vielleicht durch einen einzigen auf den Sperrmüll gestellten Koffer, auslöschen. Eine Generation ist schwer entzifferbar schon für die, die ihr folgt. Auch die Erinnerung an Kulturen, die ein paar tausend Jahre zurückreicht, kann Menschenhand zerstören; selbst Paläontologen werden von Baggern sehr unglücklich. Lediglich Geologen bewegen sich auf einigermaßen sicherem Terrain; Erdschichten ändern sich (noch) nicht so leicht ...
Ich mag T.s erdachte Geschichten, aber ich finde es schade um die, die außer ihm niemand erzählen kann.
Als die Durchsage kam: nächster Halt in G., schaute ich von meiner Lektüre auf.
G. ist irgendein Dörfchen, aber den Bahnhof kenne ich gut; Stunden habe ich da gewartet zu allen Tages- und Jahres-, in guten wie in schlimmen Zeiten. Das Bahnhofsgebäude, solide aus dem Sandstein der Gegend gebaut, hatte ich gemocht; ich erinnere mich an Fensterläden und eine hölzerne Schubkarre mit großer Ladefläche, auf der ich manchmal im Schatten saß, nachdem der Wartesaal geschlossen worden war. Jemand hatte darauf Töpfe mit Blühpflanzen gepflegt.
Heute sah ich aus dem Zugfenster und erkannte – nichts. Gar nichts. Es gibt kein Gebäude, keine Überdachung an den Bahnsteigen, nicht einmal die Bahnsteige selbst gibt es mehr. Aus dem Bahnhof G. ist ein Haltepunkt geworden; meine Erinnerungen haben einen Halt verloren.
Auf dem Weg ein Unfall; mehrere Rettungswagen und drei, nein, vier zertrümmerte Motorräder in der Zubringerschleife. Ich zucke zusammen. Mir fallen die häßlichen Kommentare von Ärzten ein: "supereilige Spenderorgane"; eisern Abstand halten, nicht daß man noch Hilfe leisten muß. Der Junge aus meinem Ort, der keine sechzehn wurde. Als das Auto vor mir abbremst und der Fahrer sich fast aus dem Fenster hängt, um besser zu sehen, werde ich wütend.
In M. die alte Besetzung: die sanfte B. mit ihren bedächtigen Bewegungen, deren Lächeln schön ist wie ein langer Sommerabend, und J., der mir seine neue Visitenkarte zusteckt – die Probezeit ist um. Im Garten gedeihen Häuser, die Mädchen jagen sich in der Scheune, der ältere Vetter zeigt einen Maori-Kriegstanz, die Sauerkirschen sind durch, die Nußernte droht bombastisch zu werden. Wieder ein Jahr, sagt B., und ich sehe eine Spur Traurigkeit in ihrem Blick.
Der Neuzugang am Kaffeetisch ist Teil einer ganz jungen Liebe von Mitte siebzig. Sie hat lange schon nicht mehr so gestrahlt; immerzu liegt seine Hand auf ihrem Bein oder in ihrem Rücken. Er verwöhnt mich, sagt sie; noch nie hat mich ein Mann verwöhnt. Daß sie nach einem halben Jahr schon heiraten wollen, klingt verflixt nach einem alten Fehler, aber was sollte man sagen? In unserem Alter, sagt er, belügt man sich nicht mehr. Und wer weiß, wieviel Zeit ihnen bleibt?
Es wird zum Abend etwas kühler, und die Fliegen drehen auf. So ist das auf dem Lande, sagt J., läßt sich noch ein Bier reichen und schaut zufrieden über die Kaffeetafel, die Baustellen, den Hof voller Sonne und Leben. Wieder ein Jahr. Es wächst, es wird.
Vor Ventilatoren liegen und hoffen, daß es bald vorbei ist. Die Wahrnehmung ist in der Hitze zusammengeschnurrt und reicht nicht mehr ganz bis an die Welt heran.
Zwei Touristen auf der Domplatte:
Ein Freund schreibt seit zehn Jahren einen Roman, jeden Tag ein wenig. Vor zwei Jahren dachte er, kurz, er wäre gleich fertig.
Ein anderer schreibt dicke Bücher. So ein Marathon, meint er, habe etwas Beruhigendes. (Ich hingegen gehe gern ein paar Schritte spazieren.)
Ich solle mich nicht so reinhängen oder mich besser bezahlen lassen. Wie man's bei anderen immer besser weiß. Das ist nicht mal professionelle Verbeulung, das ist einfach die Begrenzung des Menschen.
Warten und warten.
Tide und Wind sind günstig: alle zugleich tuckern sie aus dem Hafen, die Klipper, Tjalken und Aaken, eine lange Prozession schwarzer Rümpfe, und setzen Segel gleich hinter dem Hafenfeuer. Da verstummen die Motoren, fächert sich die Flotte auf; aus der Parade wird ein Menuett, gespreiztes Segeltuch und schaumiges Wasser, Segel hinter Segel bis zum Horizont, still und unwirklich schön. Statt Handelswaren tragen sie heute Schulklassen und Feriengäste, bunt aufs Oberdeck getupft, winkend.
Nach dem Tag liegen die alten Schiffe wieder dicht an dicht am Kai. Keins ist wie das andere, lauter Sonderanfertigungen. Die Masten schwanken kaum merklich, ein lichter Wald; der Wind rauscht in Leinen und Tauen wie in jungen Kiefern. Zwischen den Rahen hängt der Mond. Mild erleuchtet er den endlosen Abend. Unter das Gluckern des Hafenwassers mischen sich Gespräche, Musik, überschäumende Stimmen. In ein paar Tagen werden die Schiffe mit anderen Gästen hier liegen, auch nach hundert Jahren immer wieder neue Fracht.
Ruhiger, aber nicht still ist es am frühen Morgen, wenn die Sonne noch Kraft sammelt. Ich trinke den ersten Kaffee aus einer dieser gläsernen Tassen, lausche an Deck Seevögeln und Motoren, Hammerschlägen, knallenden Tauen und dem Wind und erwarte den Tag. Zwei geschenkte Stunden voller Schönheit.
Die Autofahrt heim strengt mehr an als alle Arbeit an Bord. Die Aufmerksamkeit muß pausenlos sein und darf bloß nicht ins Weite; es fehlt an Wind, an Himmel. Bei Einbruch der Dunkelheit drängen sich die LKWs auf den Rastplätzen dicht an dicht, aufragende Schatten – ich denke mir Masten hinzu und ein Schwanken – im Hafen zur Nacht.
[Alles übers Wattsegeln.]