Als ich an die Uni kam, stand Professor E kurz vor der Pensionierung. Klein, grau, verkniffen; sein Skript las er ab, ohne auch nur in den Hörsaal zu blicken.
C und ich waren die letzten, deren Arbeit er betreuen wollte. Da hörten wir dann die Geschichten: Ein Choleriker sei er, launisch, ungerecht. Seine Mitarbeiter hätten immer schon am Knallen der Tür gehört, ob man ihm aus dem Weg gehen müsse, um nicht heruntergeputzt zu werden. Keine Gnade, kein Verständnis für Fehler oder Versagen. Nun ließ er sich nur noch zu den Pflichtterminen blicken, denn er lag im Krieg mit dem gesamten Institut.
C und ich arbeiteten vor uns hin und mieden persönliche Kontakte mit Professor E. Irgendwann mußte es aber sein. Wir bereiteten uns vor wie aufs Jüngste Gericht und schliefen schlecht. Die Stufen zu seinem Haus schlichen wir empor wie zum Richtblock. Er öffnete grimmig, wie gewohnt, führte uns durch eine stilreine 60er-Jahre-Wohnung und plazierte uns an einem Tisch. Kaffee? Milch, Zucker?
Ja, die Arbeit. Erfreulich, erfreulich. So aufwendig; die Auswertung besser simpel und methodisch wasserdicht. Das und das würde er vorschlagen.
Dann tischte er Erdbeerkuchen auf, mit Schlagsahne, und wir unterhielten uns. Er war nach dem Krieg in einer zerbombten Großstadt großgeworden; Hunger und alles, sagte er, aber für Kinder? Die ganze Welt ein Abenteuerspielplatz, und unvorstellbare Freiheiten.
Kneif mich mal, sagte C, nachdem wir das Haus verlassen hatten.
Den kriegerischen E bekamen wir auch zu sehen: Bei der Vorstellung unserer Arbeit wagte ein anderer Professor zu mäkeln. Der Rückzieher war eilig.
Zur offiziellen Verabschiedung von Professor E gab es Vorträge von den Legenden des Fachs, deren Namen ich von den Buchdeckeln der Standardwerke kannte. Sein Zimmer im Institut räumte er prompt und gründlich – er wollte nichts mehr mit dem Fachbereich zu tun haben, der zur Unkenntlichkeit reformiert worden war.
Ich besitze heute seine Schreibtischlampe, die ich über Umwege bekam.
Angesichts einer Horde tobender Jugend vorm Museum bemerkt T.: Vierzehn, das war auch kein schönes Alter. Immer dieser Ansturm der Gefühle, wie bei Romeo und Julia: Wo ist mein Schwert? Wo die Phiole mit dem Gift? Wie schreibt man Phiole?
Dann zählt er auf, wie viele seiner Altersgenossen die Pubertät nicht geschafft haben. Erstaunlich viele Schußwaffen kommen vor; und Autos und Motorräder, natürlich. Ich merke, wie wenig mir Liebeskummer als Grund einleuchten will.
Einer habe eine Kassette hinterlassen mit Abschiedsworten, aber genau in den Sekunden nach dem "weil" sei ein Trecker vorm Haus vorbeigefahren, und man habe nichts weiter verstanden. (Das zumindest hätte die Familie behauptet.)
T., drohe ich, wenn du deine Geschichten nicht aufschreibst, dann mache ich das.
T. erzählt von früher. Von der Bäurin, die sich in dreißig Zentimeter Bach ertränkte; von dem Selbstmörder, den er bei einer Nachtfahrt im Straßengraben fand (ein Stückchen weiter lag der Motorblock auf der Fahrbahn) und von dem Besoffenen, den Freunde nach einer Party vor der Haustür abgeladen hatten, der aber gar nicht schlief, sondern tot war, Schädelbruch. Geschichten vom Lande.
Sein Großvater, sagt T., habe immer die Tageszeitung beiseite gelegt mit den Worten: Jo, jo. Mer meent alls, es kennt nimmeh lang daure.
Auf dem Acker, in der lehmigen Achselhöhle einer Weggabelung, hat sich ein Schlechtwettersee gebildet, über den könnte man selbst mit Anlauf nicht springen. Er muß das Wintergetreide überrascht haben; das ist darin ertrunken und hat nun die Blattunterseiten gegen die Unterseite der Wasserfläche gelegt, alle wie in einer Strömung Richtung Wald. Heute jagen die Wolken, und dahinter ist der Himmel klar; der Pfütze Grund genug, ihn blau zu spiegeln.
J. ist Fachmann für seltsame Blickwinkel, und wenn man das mit schrägem Vogel meinen würde, wäre es ein Wort für ihn: sich den gewöhnlichen Dingen aus ungewöhnlichen Richtungen nähern und dabei akrobatische Manöver fliegen. Bei D. hingegen muß ich an eine Quelle denken, unaufhaltsam, ohne daß man ihre Kraft als Gewalt zu spüren bekäme; erfaßt alles, reagiert auf alles, was zu ihr kommt, zieht aus tiefen Schichten, gibt.
Bei J. und D. lassen sich Paar- und Künstlersein so genau nicht trennen. (Ihr Gespräch hat etwas unendlich Vertrautes, gesteigert dadurch, daß jedes in seiner Mundart spricht und gelegentlich Worte des anderen ausprobiert wie kleines Salzgebäck.)
Zwischen beiden geht es hin und her: geschehene und erfundene Geschichten, Theorien, Ideen und Assoziationen; das mäandert fort und fort, und neben dem zurückgelegten Weg entsteht eine funkelnde Spur aus Bestauntem, Fotografiertem, Erzähltem. Sie fügen der Welt hinzu, jedes für sich und gemeinsam, mehr als die Summe.
Kunst nicht als Gemachtes, Kunst als Gelebtes. Oder vielleicht noch etwas über Kunst hinaus.