An der Kamera, die ich seit Wochen nicht mehr finde, fehlt mir am meisten meine Bildersammlung kleinster Gärtchen in Pflasterritzen, Mauerlöchern und Gebäudefugen. All das Grün, ohne das ich nun durch den Winter muß.
Die USA haben sich also für den Faschismus entschieden. Welche Alliierten werden sie wohl befreien? Oder a good guy with a gun? Oder wollen sie sich am eigenen Zopf aus diesem Sumpf ziehen?
Was von meiner Welt das alles in den Abgrund reißt, kann ich mir gar nicht vorstellen. Noch.
Darauf, sprudelnd im Glase, eine Aspirin. (Hilft auch nichts gegen Kopfschmerz in Planetengröße.)
So lange bin ich nun mit Kurzeck und seiner Kleinen im Frankfurt der 80er spazieren gegangen, daß ich kaum wieder hergefunden habe, völlig aus der Zeit gefallen bin. Zu spüren kriegt's der Optiker, der mir den verpaßten Termin dann noch dreimal verschieben muß. Gleitsicht kommt aber, ganz bestimmt.
Oder Piranesi, das war auch eine gute Geschichte.
Ich weiß ja nicht so recht im Hier & Jetzt; aber daß ich in Büchern wieder versinken kann, macht mir doch Freude. Und wenn ich sie erst wieder scharf sehe –!
Der gotische Kreuzgang war immmer eine Zuflucht inmitten der Stadt gewesen, mit Rosen und Unkraut, mit Gebüsch und einem Brünnlein, in heißen Sommern kühl, still und schön. Vergangenen Winter war plötzlich Baustelle; Grundsanierung, erklärte mir ein Arbeiter, man hatte auch Müll und Kriegsschutt unter dem Gärtchen gefunden, das sollte weg, und alles ordentlich.
Ist es jetzt. Kirschlorbeer, Rollrasen, das Brunnenbecken frisch einbetoniert. Es riecht ein wenig wie Einrichtungshaus. Warum so tot und traurig, das sah ich erst auf den dritten Blick: das gesamte Geviert ist von einem himmelhohen Netz überspannt, kaum sichtbar, doch vogelfest; gelegentlich hängen ihre Kadaver darin. Macht euch das letzte bißchen Erde untertan: check.
Herrn E hätte das nicht gefallen. Er hat hier manchmal gearbeitet, und überhaupt sah ich ihn öfter in der Gegend; das letzte Mal, als er auf den Stufen vor der Apothekentür erschöpft Pause machte.
Wir hatten eine Grußbekanntschaft und wechselten Worte, wenn mal wieder die Feuerwehr die Straße sperrte; ich weiß, daß er malte, sich für Geschichte interessierte, daß er Mauerseglernester meldete und unter Schutz stellen ließ. Eine freundliche Präsenz, ein Verbündeter. Jetzt las ich: er ist gestorben, vor ein paar Wochen schon, und er fehlt mir mehr, als ich mir erklären kann.
Gründonnerstag. Der Gemüsebauer auf dem Markt erzählt, einige seiner Mitabiturienten hätten das Latinum erst im Medizinstudium erworben, zwei Semester durchgepaukt, aber nur die Nomen und Adjektive. Eine Sprache ohne Verben lernen, meint er, das sei so wie Führerschein ohne Lenken machen und hinterher behaupten, man könne fahren.
Karfreitag. Wandaufschrift: Fick dich ins Knie, Melancholie!
Ostersamstag im Großstadtcafé: rosa Blümchentapeten, alle Holztische mit denselben charmanten Fehlern, Schnörkeltörtchen und Zuckerzeug, und drübergekippt Hintergrundjazz, der langsam und stetig die Stunden höhlt, die Seele korrodiert. Gefällige Klänge, in abgezirkeltem Dynamikumfang plätschernd ohne Punkt, ohne Komma, ohne Gnade. Da war mit Sicherheit kein Mensch involviert. Ich verlasse das Lokal milde verstört.
Zu Ostersonntag die Salmiakstange gefunden, die ich vor Wochen von M geschenkt bekommen und offenbar sehr gut vor mir versteckt habe. Ein Wunder.
Buchtip: "Die besten Beerdigungen der Welt", Endlichkeit für alle, auch die Kleinen.
In der Stadt hat eine Bäckerei eröffnet, wo vorher schon zwei andere gescheitert sind. Erst gab es Bauarbeiten, dann lange ein Schild, daß bald was kommt, und jetzt ist da ein hipper Laden mit nichts als Brot, vier Sorten. Machen auf um halb zehn und zu, wenn alles verkauft ist.
Das Lädchen ist winzig; anderthalb Meter Theke, die Verkäuferin schenkt auch Kaffee aus, und in der Backstube dahinter werken junge Männer voller Elan. Man darf im Winter die Tür nicht offen halten, die Zugluft stört den Teig. Alles ohne Zusätze, es wird nicht immer gleich, aber übrig ist abends selten was.
Vor dem Laden immer eine Schlange, "wie in de deier Zeit": ein paar Väter mit Kinderwagen, sonst lauter Rentnerinnen. Die haben offenbar Geld, Zeit und Geduld. Die Verkäuferin, vor Piercings blitzend, erklärt das Sortiment: "… ein geiles Roggen, und hier haben wir noch das mit Saaten, das ist auch sehr geil …" "Des nehm isch", entscheidet sich die alte Dame, zahlt und zieht von dannen. Eine raus, eine rein, und Laib für warmen Laib leeren sich die Regale.
Auch ich trage mein Brot nach Hause, den Duft von früher in der Nase. Es bleibt drei, vier Tage frisch, man braucht nichts drauf. Ich hatte es ganz vergessen, solange ich keines hatte, aber: richtig gutes Brot ist ein richtig großes Glück.
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