Derzeit lese ich, bei einem Eiskaffee und gegen die Hitze geschlossenen Vorhängen, eine Weihnachtspublikation korrektur. Es geht ums Barock. Die zwei Engel, die auf dem Umschlag ihre Posaunen kreuzen, kommen mir ganz schön unbarock vor, und tatsächlich: die sind nicht nur heidnisch, sondern sie zieren in dutzendfacher Replikation das Caesars Palace, Hotel und Casino in Las Vegas.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie man mal eine Publikation über Hummeln beinahe mit einem Taubenschwänzchen auf dem Titel illustriert hätte, und mache eine Anmerkung. Die Antwort ist ein kaum verschleiertes "Stell dich nicht so an": die Engel hätten allen (außer, offensichtlich, mir) gut gefallen. Nun. Dann bleibt's wohl bei Christmas in Vegas. Mache dich auf, werde licht, it's Bethlehem with bling!
Irgendwas fraß das Basilikum, blattweise, und hinterließ schwarze Köttel; der Kräutertopf sah Tag für Tag schäbiger aus. Vorgestern früh hörte ich's dann von der Fensterbank leise grasen und schlich mich an: da weidete eine beachtlich große Raupe von Basilikumstengeldicke und in (aber exakt!) Basilikumgrün. Recherchen ergaben: das könnte eine Gammaeule werden. Seither nun aber nix, keine neuen Köttel, auch kein Gespinst.
Worauf es immer hinausläuft, wenn ich mir was Lebendiges ins Haus hole: Ich mache mir Sorgen.
Nachtrag: Sie hat sich, gut getarnt in einem erdnahen Blatt, versponnen und verpuppt. Was nicht heißt, daß ich mir jetzt weniger Sorgen mache.
Irgendwo im Karree wird lautstark gefeiert; nach hinten raus ein Fenster öffnen heißt, Stimmengewirr und Baßgewummer ins Zimmer lassen. Ich gehe trotzdem schlafen; H. und A. bleiben in der Küche sitzen.
Am Morgen ist H. etwas zerknittert. A. und er hatten nämlich nach Mitternacht beschlossen, herauszufinden, wo der Krach herkommt, und waren um den Block gegangen. In der Parallelstraße, erzählt H., habe sich ein Paar gestritten; eins habe auf der Straße gestanden, das andere brüllend Sachen aus dem Fenster geschmissen. Die Polizei sei schon auf dem Weg gewesen.
Die Party hätten sie dann in einem Haus gefunden, das sonst nur Büros enthält; eine WG-Feier (ein einziges offenes Fenster zu unserem Innenhof). Auf siebzig Quadratmetern hätten sich vielleicht 250 Leute gedrängt; trotzdem habe der Gastgeber A. und H. sofort als Fremde identifiziert und ihnen ein Bier ausgegeben, als sie sagten, sie seien Nachbarn und wollten lieber mitfeiern als sich beschweren. Cool! Und ob H. bei der Feuerwehr sei? Naja, die Hosenträger?
Dann seien sie auf der Party gewesen, schlechtes Bier, viel zu laute Musik und die Leute halb so alt wie sie; einer habe H. durch den Lärm zugebrüllt: Ey, bist du von der Feuerwehr?
Vielleicht gab es in den letzten Jahrzehnten ein Kinderbuch oder einen Film, in dem der Feuerwehrmann Hosenträger hatte, überlege ich. Jedenfalls: wenn uns künftig Unbekannte auf der Straße grüßen, weiß ich wenigstens, wieso.
Das kleine Kind steht an der Abteiltür und ruft: Mama, Mama! Wo bist du, Mama! Kein Zweifel, das denkt, ab jetzt müsse es sich allein durchschlagen. (Die Mutter ist vorhin los, einen Kakao holen, aber das weiß das Kind nicht mehr.) Schließlich gehe ich hin.
Das Kind ist vier, vielleicht erst drei, es weiß nicht genau, wo es herkommt und hinfährt, und die Mama ist verschwunden. Ich schlage vor, ein bißchen zu warten und zeige aus dem Fenster auf Kirchen, Burgen und Schiffe. Das Kind ist gleich Feuer und Flamme: wer in den Burgen wohnt? wo die Schiffe hinfahren? ob es da Straßen gibt? – Na, und guck mal, wer da kommt!
Die Mutter hat zwei Becher Kakao in der Hand. Das ist aber lieb von Ihnen, sagt sie zu mir, und ihre Blicke sagen: was haben Sie mit meinem Kind zu schaffen! – Beide setzen sich auf ihren Platz ein Stückchen den Gang hinunter.
Auf einmal springt die Mutter auf, daß der ganze Waggon zusammenzuckt, es muß etwas Schreckliches passiert sein: Was! hast! du! wieder! gemacht! Ich habe doch die ganze Zeit neben dir gesessen! Nun ist alles verdorben, mit dir kann man solche Reisen einfach nicht machen! – Sie zerrt das Kind in Richtung Toilette, zum Reinigen, denn es hat sich mit Kakao bekleckert.
Das Kind läßt sich zerren. Es hebt die Stimme nicht, sagt ja, Mama, und: da war eben schon wieder eine Ritterburg!
Draußen auf dem Bahnsteig atme ich durch und öffne die Fäuste zum Winken, kurz, in Richtung des Fensters, hinter dem das Kind bei seiner Mutter sitzen müßte.
Kleine Geschichte für M.
Der Test für Frische, Straff- und Wohlgeformtheit: ob ein Bleistift, druntergeklemmt, hält oder nicht.
Hält: Durchgefallen. Fällt runter: Bestanden.
(Ist genau der Quatsch, nach dem es klingt.)
Als ich vielleicht zwölf war, verdrehte sich das Mannsvolk im Dorf den Kopf nach Manuela: sechzehn, gerade eben und unerwartet erblüht zur ländlichen Sexbombe. Ihre Uhrglasfigur wußte sie mit weiten Röcken und engen Blusen zu betonen. Ging sie mit Absätzen und Wippehaar durchs Dorf, folgten ihr die Blicke, und man hörte, je nach Jahrgang und Geschlecht, Abfälliges oder Anerkennendes über Beine, Titten, Arsch.
Die Mädchen meines Jahrgangs plagte Neid, nur halb verstanden; heimlich übten sie Lidstrich und probierten die BHs, die sie zuhause fanden. Doch was half's, wenn denen doch die Füllung fehlte: Manuelas Brüste, denen der Ausdruck Atombusen mühsam gerecht zu werden suchte, biblische Türme, ach, Möpse oder gar noch dickere Hunde, aufgeschürzt jeden Stoff straff spannend wie Beton.
Anschauen, anfassen, haben – nachts lagen sicher viele im Dorf wach und dachten an die Fülle von Manuelas Brüsten. Ich jedenfalls tat es. Irgendwann bald würde es auch bei mir so weit sein, und die Vorstellung, nie wieder auf dem Bauch schlafen zu können, quälte mich. Oder meine Füße nur zu sehen, wenn ich mich vornüberbeugte. Und immerzu beäugt zu werden. Ich zog die Bettdecke ganz fest, klemmte sie mit den Armen ein und betete inbrünstig, daß der liebe Gott mich verschonen möge – bitte, bitte nicht wie Manuela.
– Trägst du etwa gar keinen BH? – Spinnst du, wofür denn?
H. und A. besuche ich nur alle paar Jahre. Diesmal ist alles anders: Kind 3 ist da, und endlich, endlich haben sie ein Haus gefunden.
H. führt mich durchs Erdgeschoß, als könne er es selbst noch gar nicht fassen. Räume, mit Flügeltüren verbunden; ein Kamin (qualmt leider); Eichenstabparkett, im großen Zimmer das makellose, im kleinen das Holz mit den Astlöchern; ein Wintergarten, in den es reinregnet, eine kühle Küche mit Holzofen. Überall stehen Möbel, als seien sie auf Durchreise. Bücher und Akten wachsen neben den Regalen die Wände hoch. Auf, hinter, unter allem Kinderspielzeug, an der Wohnzimmerdecke vor der Terrassentür eine Schaukel. Es ist wunderschön.
A. steht im Garten, den Jüngsten auf dem Arm, und spielt Fußball mit der Vierjährigen. Der Elfmeterpunkt ist kahl und steinhart. A. ist so gelassen, wie ich wenige Mütter kenne, ihre Fragen so präzise wie eh und je. Was ich denn zu meiner Freude tue? Ich könnte was vom Schreiben sagen, aber. Also sage ich nichts.
Später macht H. ein Feuer auf der Terrasse. Er lebt in einer Stadt, in der zwei Akademikergehälter nur mit Glück reichen für ein Dach überm Kopf und seine Studenten schicker sind als er; sogar die Obdachlosen hier, sagt er, seien aus dem Katalog. Aber als er im Qualm steht und mit Feuerschale und Holzscheiten hantiert, wirkt er ganz und gar zufrieden.
Projekte hat er, aller Art. Ein Buch schreiben, eine Wand rausbrechen, ein Dach erneuern. Drei Kinder großziehen im immer wilderen Garten. Ich wünsche ihm und den Seinen, daß das Glück gern wohnen bleibt im Haus am See.
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