Auf dem Weg ein Unfall; mehrere Rettungswagen und drei, nein, vier zertrümmerte Motorräder in der Zubringerschleife. Ich zucke zusammen. Mir fallen die häßlichen Kommentare von Ärzten ein: "supereilige Spenderorgane"; eisern Abstand halten, nicht daß man noch Hilfe leisten muß. Der Junge aus meinem Ort, der keine sechzehn wurde. Als das Auto vor mir abbremst und der Fahrer sich fast aus dem Fenster hängt, um besser zu sehen, werde ich wütend.
In M. die alte Besetzung: die sanfte B. mit ihren bedächtigen Bewegungen, deren Lächeln schön ist wie ein langer Sommerabend, und J., der mir seine neue Visitenkarte zusteckt – die Probezeit ist um. Im Garten gedeihen Häuser, die Mädchen jagen sich in der Scheune, der ältere Vetter zeigt einen Maori-Kriegstanz, die Sauerkirschen sind durch, die Nußernte droht bombastisch zu werden. Wieder ein Jahr, sagt B., und ich sehe eine Spur Traurigkeit in ihrem Blick.
Der Neuzugang am Kaffeetisch ist Teil einer ganz jungen Liebe von Mitte siebzig. Sie hat lange schon nicht mehr so gestrahlt; immerzu liegt seine Hand auf ihrem Bein oder in ihrem Rücken. Er verwöhnt mich, sagt sie; noch nie hat mich ein Mann verwöhnt. Daß sie nach einem halben Jahr schon heiraten wollen, klingt verflixt nach einem alten Fehler, aber was sollte man sagen? In unserem Alter, sagt er, belügt man sich nicht mehr. Und wer weiß, wieviel Zeit ihnen bleibt?
Es wird zum Abend etwas kühler, und die Fliegen drehen auf. So ist das auf dem Lande, sagt J., läßt sich noch ein Bier reichen und schaut zufrieden über die Kaffeetafel, die Baustellen, den Hof voller Sonne und Leben. Wieder ein Jahr. Es wächst, es wird.
Mein Herz schlägt da eigene Wege ein. Auf einmal halte ich die Luft an, und in mir geht die Sonne auf, während ich am liebsten hüpfen würde: Ist. Das. Wunderbar.
Es sind Menschen, Geschichten, Zufälle und Ideen, die mein Entzücken wecken: Menschen, die für etwas brennen. Ein Bild mit einer hübschen Absurdität. Kleine, um einen Fehler herum funktionierende Systeme; alte Gebräuche, die als schöne Hülle vorsichtig weitergereicht werden. Sinn abseits von Verdienst; die Würde des Kaputten. Dinge, die sich der Funktion entziehen, Menschen, die nicht passen wollen. Sehnsucht. Das Größere, nie Ganze auf den zweiten Blick.
Ein Teil meiner selbst schaut nachsichtig: Haste wieder was gefunden?, aber selbst dieser Teil wird ganz still, wenn es um Liebe geht, so unbegreiflich und zwecklos, wie sie nun eben ist, und wider alle Zerbrechlichkeit. Die macht mich lange froh, und ich fürchte wenig, solange es sie gibt.
Vor Ventilatoren liegen und hoffen, daß es bald vorbei ist. Die Wahrnehmung ist in der Hitze zusammengeschnurrt und reicht nicht mehr ganz bis an die Welt heran.
Zwei Touristen auf der Domplatte:
Ein Freund schreibt seit zehn Jahren einen Roman, jeden Tag ein wenig. Vor zwei Jahren dachte er, kurz, er wäre gleich fertig.
Ein anderer schreibt dicke Bücher. So ein Marathon, meint er, habe etwas Beruhigendes. (Ich hingegen gehe gern ein paar Schritte spazieren.)
Ich solle mich nicht so reinhängen oder mich besser bezahlen lassen. Wie man's bei anderen immer besser weiß. Das ist nicht mal professionelle Verbeulung, das ist einfach die Begrenzung des Menschen.
Warten und warten.
Tide und Wind sind günstig: alle zugleich tuckern sie aus dem Hafen, die Klipper, Tjalken und Aaken, eine lange Prozession schwarzer Rümpfe, und setzen Segel gleich hinter dem Hafenfeuer. Da verstummen die Motoren, fächert sich die Flotte auf; aus der Parade wird ein Menuett, gespreiztes Segeltuch und schaumiges Wasser, Segel hinter Segel bis zum Horizont, still und unwirklich schön. Statt Handelswaren tragen sie heute Schulklassen und Feriengäste, bunt aufs Oberdeck getupft, winkend.
Nach dem Tag liegen die alten Schiffe wieder dicht an dicht am Kai. Keins ist wie das andere, lauter Sonderanfertigungen. Die Masten schwanken kaum merklich, ein lichter Wald; der Wind rauscht in Leinen und Tauen wie in jungen Kiefern. Zwischen den Rahen hängt der Mond. Mild erleuchtet er den endlosen Abend. Unter das Gluckern des Hafenwassers mischen sich Gespräche, Musik, überschäumende Stimmen. In ein paar Tagen werden die Schiffe mit anderen Gästen hier liegen, auch nach hundert Jahren immer wieder neue Fracht.
Ruhiger, aber nicht still ist es am frühen Morgen, wenn die Sonne noch Kraft sammelt. Ich trinke den ersten Kaffee aus einer dieser gläsernen Tassen, lausche an Deck Seevögeln und Motoren, Hammerschlägen, knallenden Tauen und dem Wind und erwarte den Tag. Zwei geschenkte Stunden voller Schönheit.
Die Autofahrt heim strengt mehr an als alle Arbeit an Bord. Die Aufmerksamkeit muß pausenlos sein und darf bloß nicht ins Weite; es fehlt an Wind, an Himmel. Bei Einbruch der Dunkelheit drängen sich die LKWs auf den Rastplätzen dicht an dicht, aufragende Schatten – ich denke mir Masten hinzu und ein Schwanken – im Hafen zur Nacht.
[Alles übers Wattsegeln.]
Ich zähle zur recht großen Gruppe der Ungeselligen. Das ist mir nicht neu; doch was immer noch zwackt, ist, mißverstanden zu werden, aufgrund falscher Annahmen einen verkehrten Platz zugewiesen zu bekommen. Ich bin nicht Gruppentier genug, irgend etwas richtigzustellen.
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