Fassungslos macht mich der Haß, dessen sich die Kommentatoren nicht schämen zu müssen glauben: Wir lassen Menschen ertrinken? Richtig so! Die wollen hier ja nichts als ein besseres Leben! – Wir schicken sie in die Sklaverei? Haben sie verdient, die Rechtsbrecher!

So vom Sofa aus ist leicht entscheiden über Leben und Tod. Aber um Unterschiede zu machen zwischen Mensch und Mensch, muß man schon alles ausgeknipst haben, Werte, Denken, Mitgefühl. Ich hoffe aus ganzer Seele, daß ich das niemals lerne; und daß ich nie auf einen angewiesen bin, der das kann.

Ach.






Etwas Ähnliches habe ich gestern auch gedacht. Da war im Zug eine afrikanische Kleinfamilie, und ich habe mir gedacht, wer würde es fertig bringen, ohne einzugreifen einen ertrinkenden Menschen im Wasser zappeln zu lassen, bis er nicht mehr zappelt? Ich kann nur hoffen, daß solche Äußerungen, wie die von Ihnen berichteten unbedacht und affektbedingt sind, und daß, die sich für solche Worte nicht zu schade sind, sie im Grunde nicht meinen und selbst als erste einen Rettungsring werfen würden, wenn's drauf ankommt.

Und welcher Befürworter der Todesstrafe etwa würde es tatsächlich fertigbringen, einem Delinquenten die Rübe abzuhauen oder die Schlinge um den Hals zu legen? Einen Menschen atmen, schwitzen, weinen sehen vor Angst -- und ihn dann töten? Man kann nur hoffen: Sehr, sehr wenige wären so kalt oder so voller Haß, daß sie's täten. Und daß die meisten wohl die Hände sinken lassen müßten und für immer geheilt wären von ihrem Haß, wenn man sie in eine solche Situation brächte. Zu sagen, laßt die doch alle ertrinken, ist leicht dahingesagt; aber meinen das diese Leute wirklich? Ich habe das schon von Menschen gehört, denen es absolut nicht zuzutrauen ist, daß sie jemanden ertrinken ließen.

Andererseits ist das genau die innere Verhärtung, ohne die die Verbrechen der NS-Zeit gar nicht möglich gewesen wären.

Was das gute Leben angeht: Es ist ja leider ein zutiefst menschlicher Zug, sich den Erfolg eigener Leistung, das Versagen aber den Umständen zuzuschreiben -- und bei anderen umgekehrt. Man hört darum immer wieder, sollen die in Afrika doch erstmal selbst was aufbauen (oder ähnlich hilfreiche Ratschläge). Als ob es persönlichem Versagen zuzuschreiben wäre, wenn ein Land im Bürgerkrieg vor die Hunde geht. Nun ja. Aber sagen Sie mal, was weiß ich, einem Oberstudienrat mit Haus, Garten, Auto und Klavierstunden, sein Erfolg sei nichts als Glück (angefangen mit dem Glück, in Mitteleuropa als Kind von Akademikereltern geboren zu sein) -- da sollten Sie mal hören, was dann los ist.


Es ist ja leider nicht nötig, den Ertrinkenden, Verschleppten, Gefolterten in die Augen zu sehen. Es sind Verwaltungsakte, die da in der Öffentlichkeit gebilligt werden: Schiffen keine Landeerlaubnis erteilen, Flieger festsetzen, gegen Retter prozessieren. Gestorben wird anderswo, schön abstrakt in den Zahlen in der Tagesschau.

Das Glück der Geburt in den korrekten Breiten? Ist auch nur Glück der Geburt zur rechten Zeit. Vor nicht zweihundert Jahren bevölkerten Europäer die Nußschalen in die Neue Welt, auf der Flucht vor politischen und religiösen Repressalien – und als Wirtschaftsflüchtlinge. Gab ja nichts zu essen hier.


Meine Rede. Das meiste, was ein Mensch zustande bringt, verdankt sich glücklichen Zufällen. Aber davon will der Stolz natürlich nichts wissen. Und auch nicht die Verachtung gegenüber denen, die keinen Erfolg haben.

Natürlich, die Entscheidungen werden weit weg von sterbenden Menschen getroffen. Aber ohne Ausführende, die die Entscheidungen umsetzen, wäre das alles nur heiße Luft. Und Sie echauffierten sich hier ja über Kommentatoren.


Zum Glück gibt es Menschen, die über die eigenen Belange hinausblicken können: mission-lifeline.de