Herr K., der seinen Lebensabend im Haus nebenan verbrachte mit ummauertem Grund, massiver Kittelschürzenfrau, abends einem Bier auf der Hollywoodschaukel, der hatte nur ein Bein, und nicht vom Ketterauchen; das andere hatte er im Krieg verloren. Zum Stehen lehnte er die Krücken gegen seinen Rumpf und legte den Beinstummel auf die Griffe. Ich bestaunte den Mercedes mit Handschaltung und Kugelgriff am Lenkrad, den er mit Zigarette in der Hand manövrierte.

Jeden Samstag um Mittag heulte die Sirene auf dem einstigen Schulhaus genau dreimal, das drang durch alle Wände. Eines Sommertages hörte sie nicht auf nach dem dritten Mal, sondern heulte fort und fort und fort, da schwang sich Herr K. mit seinen Krücken über die Straße, seine Frau ihm hinterher, und brüllte: Die Russe! Die Russe komme!

Die Russen kamen dann nicht, und irgendjemand stellte auch die Sirene wieder ab, aber nicht mal ich Kind konnte lachen über das seltsame Verhalten der Nachbarn; zu greifbar war ihre Angst gewesen und lag nun in der Gasse wie ein Geruch.

Dem Vater war das nur allzu begreiflich; der mußte sich selbst oft zwingen, bei Flugzeugmotorgeräusch nicht in Deckung zu gehen.

Bis auf mich sind gekommen: leichtes Unbehagen bei Sirenen, Tieffliegern, Kettenfahrzeugen; Unwille, Teil von Menschenmengen (auch: im Gleichtakt jubelnden) zu sein; Bedürfnis nach Überblick; danach, in jedem Falle zu Fuß wegzukönnen, im Notfall auch unbemerkt.





Zwei oder mehr Hiesige, da gedeiht er schon: haste das gehört? Wer was und mit wem, das Wann nicht so entscheidend, denn auch der Großvater vom Helmut damals, genau das gleiche Spiel. Das Dorf weiß alles und vergißt nichts.

Wichtig die Verortung: zu jeder Geschichte gehört die Scholle. Der Klaus, weißte, wennde am Bahnübergang links ab, und das Grundstück hinterm Gasthaus, das ist dem Bruder, der hat sich vor zehn Jahren totgesoffen, also, der Klaus. Die Ingrid, von der Schreinerei die Jüngste, die dann nach Ixthausen gegangen ist, wie der Bruder den Betrieb ... So zieht das Netz sich eng und enger.

Und was da alles nicht verstanden wird: wie kann man nur? Was haben die sich dabei gedacht? Wer wär aber auch darauf gekommen? Und die armen Kinder, und immer alles mit Moral. Dazwischen Altes: ja, die lebt auch schwer. Stehn der Tage zweie überre Erde.

Weltbewegend ist das alles nicht, was durchgehechelt wird; Tod und Teufel, Krankheit und Verworfenheit und dieser ungepflegte Rasen, wie beim Willi, und der hat damals den Verstand verloren nach dem Scheunenbrand, auch schon, ach, ewig her, da hat die Großmutter von Marthas Schwiegervater noch gelebt.

Das ist mehr als exakte Überlieferung, es ist der Kleber, mit dem, wer hier lebt, haften bleibt und Allianzen zementiert. Salz, Hefe, Kitt und Sprengstoff der Gemeinschaft.

Ich kann das nicht, nicht mal so tun als ob. Daß die anderen nicht verstummen, wenn ich mich an den Tisch setze, wundert mich.





M. erzählt von einer verhauenen Klausur, unter die ein Student geschrieben hatte, er habe nicht erwartet, hier Lernstoff aus der Mittelstufe produzieren zu müssen; die wurde am Lehrstuhl herumgereicht.

Arme Jugend von heute. Stundenpläne bis ins letzte Semester. Lernziellisten. Und bevor sie ein Buch anfassen, fragen sie, ob das prüfungsrelevant sei. Das gab es bei uns auch schon, sagt M. Ja, in den Nebenfächern vielleicht, aber uns Hauptfachstudenten wäre der Eindruck, daß wir's so genau eigentlich nicht wissen wollen und nur lernen, um die Prüfung zu bestehen, unendlich peinlich gewesen. Oder? Da frage ich den richtigen; M. lernt, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wofür das gut sein sollte.

V., in der sechsten Klasse, ärgert sich: Man zeige ihnen jede Menge Stoff; aber zum Einüben sei gar keine Zeit, immer gehe es gleich weiter zum nächsten Thema. V. läßt sich deswegen daheim Übungsaufgaben geben (V.s Mutter unterrichtet Mathematik, der Opa Latein, da wird das noch eine Weile gehen); aber was wird aus Schülern, denen keiner antworten kann? Denen es reicht, wenn sie von der Sache mal gehört haben?

M., sage ich, du bist ein Dinosaurier. Ich weiß, knirscht er. Dann rezitiert er ein Gedicht, das ich längst wieder vergessen habe, und wir sprechen von erfreulicheren Dingen.





Wenn für das, was gesagt werden müßte, Worte ohnehin nicht reichen, flüchte ich mich in die Kürze, geradezu: Ruppigkeit.





K. trägt heute ihre Halskette aus grauen Möbelgleitern und Haarnadeln, man zögert, sie Schmuck zu nennen. Aber Protz will K. gerade noch weniger als sonst. Hast du gesehen, einen Tag nach der Amtseinführung hatte das Oval Office goldene Vorhänge.

Eine halbe Zwiebel in einem Plastikbeutel (@halfonioninabag) versucht gerade, mehr Twitter-Follower zu sammeln als der Präsident der Vereinigten Staaten. Nutzt natürlich auch nichts, aber es hat dazu gereicht, mich noch einmal bei Twitter einzuloggen.

Das komplette ABC-Interview habe ich gelesen. Wegschauen ist schwer bei diesem transatlantischen Desaster, dieser bizarren Mischung aus Kindervorstellung und Trauerspiel. Barbarische Zeiten sind ausgebrochen.

Vielleicht sollte ich es halten wie H.: keine Nachrichten. Schlimm ist es auch, ohne daß ich davon weiß.

 

Und daß es alles andere als in Ordnung ist, wenn der Anführer der freien Welt (was immer das bedeutet) so medienwirksam wie beiläufig Folter gutheißt. Daß Verantwortung auch bedeutet, die Menschenrechte nicht ohne Not in Frage zu stellen. Daß man darüber überhaupt streiten kann, hinterläßt mich, gelinde gesagt, irritiert.