Nun also der Anschlag in Halle. Deutschland hat ein Antisemitismus-Problem, steht in Artikeln und Kommentaren, das lese ich auf Blogs und in Essays. Und er werde verharmlost, nicht wahr- oder ernstgenommen, totgeschwiegen. Antisemitismus sei wieder salonfähig.
Ich lese und bin befremdet. Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Ausgerechnet hier.
In meinem realen, lebendigen Umfeld habe ich in der Tat noch nie Antisemitismus beobachtet. Das mag an meinen freundlichen Mitmenschen liegen; es liegt aber ganz sicher auch daran: In meinem Umfeld gibt es keine Juden. Sie sind unsichtbar.
Juden kenne ich aus Geschichten. Ich weiß, wo einmal Synagogen waren und daß man Steine auf die Grabstätten legt; ich besuche Museen und lese die Publikationen der Geschichtsvereine. Ich weiß, wo und wie meine Stadt jüdisch geprägt ist. Die Namen ihrer jüdischen Bürger kenne ich von den Stolpersteinen vor vielen Hauseingängen.
Oft lese ich diese Namen, Geburts- und Todesdaten. Alles andere – Diskriminierung und Schikane, Denunziation, Deportation und Ermordung – muß ich mir ausmalen.
Daß der Antisemitismus erstarkt, macht mich ratlos und traurig. Ich würde gern etwas tun, wenigstens ein Zeichen setzen; doch ich weiß in meinem Hier und Jetzt nicht, wie.
Ach, hört doch auf mit eurem: wird alles weitergehen wie bisher. Wird es nicht; darf es gar nicht. Nun macht eure Arbeit und sorgt dafür, daß es die tragen müssen, die es leisten können.
Herrschaftszeiten.
Ach, es ist nichts mit dem Schreiben gerade, den kleinen Geschichten ist die Dringlichkeit abhanden gekommen vor lauter: und nun?
Da brennt die Lunge der Erde, ein paar indigene Völker werden gleich mit beseitigt; die Verantwortlichen versprechen sich gute Geschäfte. Hierzulande möchte man Menschen mit unbrauchbarer Lunge kasernieren; den Kassen bringe dies erhebliche Minderausgaben in einem mittleren dreistelligen Millionenbetrag (sic). Wie eine Gesellschaft mit ihren schwächsten Gliedern verfährt, bestimmen Gier und Geiz.
Der betrunkene Obdachlose, der drei jungen Schwarzen hinterhergrölte, sie sollten abhauen, sie hätten bei uns nichts verloren: H kommentierte, Arschlöcher gebe es halt überall; aber ist das so einfach?
Wir alle haben in den Kellern unserer Seele das Kleinkind, das brüllt und mit dem Fuß aufstampft. Wir haben da den Spießer, für den sonnenklar ist, wer was verdient und was nicht, und auch den Steinzeitmenschen, der auf alles eindrischt, was ihm unheimlich erscheint.
Kennen muß man sie, natürlich. Was aber sind das für Zeiten, wo wir unserem unterirdischen Personal Freilauf geben, und zunehmend ungeniert?
Der Schlaf, der Traum. Der Tod.
Nicht die Zuneigung, aber die Liebe. Das Mitleid nicht, aber die Barmherzigkeit.
Wenn nicht die Kunst, so doch ihre Auffassung.
Nicht das Streben und nicht das Scheitern, doch das Gelächter.
Das Immer-wieder-Aufstehen. Das Tun aus Freude.
Das Gewissen. Die Schwäche.
Das Dennoch. Das Nein, danke.
Manchmal muß ich, von wegen schlechter Laune, gedanklich all das Blech aus der Stadt räumen. Wie viel Platz da wäre! Man könnte eine Reihe Bäume in jede Straße pflanzen, dann wär's auch gleich fünf Grad kühler. Ich finde, Autos sollten Angst vor mir haben. Entsprechend schwungvoll trete ich auf den Zebrastreifen, scheinbar ohne links und rechts zu schauen – die werden schon bremsen.
(Sollte ich trotzdem richtig alt werden, dann werde ich mit dem Rollator den Autos, die auf dem Gehsteig geparkt sind, den Lack zerkratzen.)