Radiopredigten, sagt V, könne er innerhalb zweier Minuten zuordnen: bei den Evangelischen ist es Gelaber. Bei den Katholiken ist es deprimierend: das reine Jammertal. – Klar; einem Katholiken muß das Abstrakte verschwurbelt scheinen. Ich hingegen empfinde als geradezu unverschämt, wie unter Glöckchenklang und Weihrauchschwaden nichts weniger versprochen wird als: du mußt nicht sterben; dein Begräbnis ist eine Aussaat. Aber klar, so was zieht im Jammertal.
Meine Zeitgeber sind Bahnhofsuhren und die an Glockentürmen; die von Apotheken und anderen Geschäften bleiben ja allmählich alle stehen und werden früher oder später abmontiert. Und wie ich mit M aus dem Wald komme, wissen wir schnell, wo wir hinmüssen: Das da ist Eich, mit dieser riesigen Kirche, das lassen wir rechts liegen; wir wollen dort rüber, auf das romanisch-gotische Turmkonglomerat zu. Kann man nix sagen: Kirchen geben Orientierung.
Später stehe ich staunend im Mariendom. So eine herrliche Verschwendung von Raum; so etwas aus der Zeit Gefallenes, verrückt und wunderbar.
Wann sind Sie eigentlich das letzte Mal irgendwo reingegangen ohne Plan, ohne Einladung, ohne auch nur eine Ahnung, was das werden könnte, und dann wurde es etwas Erstaunliches?
Ich überlege immer noch.
Nicht mal ne Woche, und bezahlt, jaja, aber ich habe keine Lust; nette Menschen da, und das Essen gut, aber ich mag nicht. Zum Wochenende wieder daheim sogar, und das soll es etwa besser machen?
Ich möchte meine Tage in ihrer Länge am Schreibtisch und mit ihren kleinen Gängen, den Mittwoch, den Montag und die anderen, einfach wie immer, mag kein Wetter verpassen und keinen Wechsel im Licht, keinen Kaffee und kein Gespräch, ja, verflixt, könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen?
Nun hör aber auf. Nicht mal ne Woche.
Na, Leichtmatrosin, begrüßt mich T. Ich schenke ihm Topflappen, meine ersten seit der dritten Klasse, in Notfallrot und Kriegsschiffgrau.
Er sei, erzählt er, im Garten des Heims zwei alten Leutchen begegnet; der Mann habe sich an den Rosen zu schaffen gemacht, sie, am Beetrand und nicht mehr gar so mobil, habe wohlgemut erzählt, daß sie sich schnell noch um die Blumen kümmern müßten, dann packen, und morgen ganz früh, da führen sie nach Schlesien. Tags drauf das gleiche Bild, und sie erzählte, morgen gehe es nach Bad Lippspringe; jeden Tag ein anderes Ziel.
Vielleicht ein guter Punkt, um da zu bleiben, denke ich. Immer was zu tun, und immer etwas, um sich drauf zu freuen. Aber was weiß ich; ich habe ja jetzt schon keine Lust, mich für den nächsten Segeltörn anzumelden, und der ist in zwei Jahren. Aufs Reisen, anders als aufs Wandern, freue ich mich frühestens dann, wenn ich unterwegs bin.
Kennst du das?, frage ich T. Mir scheint das das Gegenstück zu sein zu den Leuten, die, egal wo sie sind, von Erlebnissen anderswo reden. Hic Rhodos, hic salta, fuhr man dem antiken Athleten über den Mund, als der in Athen prahlte, wie toll er auf Rhodos gesprungen sei. Spring halt hier, wenn du's so gut kannst.
Das, sagt T, hieß bei uns im Dorf: Dehemm honn alle Buuwe Kligger!
Wie hießen im Dorf eigentlich Topflappen – Dibbelumbe?
Und diese Kapellen und Kapellchen an den Wegrändern und Weingärten. In vielen standen mal alte, wertvolle Heiligenbilder, die sind lange weggekommen und durch spätere Massenware ersetzt; aber geehrt werden sie, alle. Man sieht es an Blumen und Kerzen, an den gefegten Vorplätzen, den sorgsam nachgepinselten Blutrinnsalen auf dem Torso des Heilands. Inzwischen sind sie oft beschildert, weil nicht mehr jeder Wanderer weiß, wozu das gut sein soll und sonst vielleicht sein Picknick darauf abhält.
Zweidreimal bleibe ich stehen, wo nichts weiter als fünf hellere Steine in Kreuzform in die Mauer gesetzt sind, mit einem Sims davor für Blumenschmuck vielleicht; andere Male stehe ich verwundert vor proppenvollen Altären mit LED-Kerzen und Votivgaben von ungelenk bis industriegefertigt: Maria hat geholfen; Maria hilft immer; Danke, Maria.
Dazwischen entdecke ich kitschige Engel-auf-Herz-Ensembles aus dem Baumarkt-Dekoregal, manche mit salbungsvollen Schmuckaufschriften: "Ein Engel ist jemand, der dir in der dunklen Nacht einen Stern schenkt", "Liebe ist das einzige, was mehr wird, wenn man es weitergibt".
"Jajaja. Ein Loch ist das einzige, was größer wird, wenn man etwas davon wegnimmt", sagt M, der meine Abneigung gegen derlei Sprüche teilt. "Pfannenfertig" nannte Blogkollegin SoSo derlei Weisheiten mal.
Da ist eine Sehnsucht, so ein deutlich verspürtes Loch in der Seele, und das wird neuerdings mit Gipsgußgeist made in Fernost gestopft? Ich weiß nicht, kann das gehen? Ich weiß nicht mal, ob ich, der Frömmigkeit fremd ist, mir ein Urteil erlauben darf; ich kann ja nur darüber staunen.
M hinwiederum wundert sich über mich. Ich bleibe vor jedem Wegkreuz stehen und versuche seine Aufschrift zu entziffern, ich spähe in jedes Heiligenhäuschen und krame in meinem Hirn nach der zugehörigen Legende. Mich rührt der Ausdruck tiefer Gläubigkeit, auch wenn ich mich ein bißchen schlecht fühle beim Zuschauen.
Letztlich ist es wohl die Macht der Geschichten, die mich fasziniert. Menschennöte, über Jahrhunderte in Handlungen und Bildern geronnen; der Trost durchs Immer-wieder-Gleiche. Die universelle Sehnsucht der Menschen nach etwas über ihnen, und wie sie über die Zeiten Ausdruck fand und findet. Daß da den Leuten etwas heilig ist.