Versuch, im Fieberschädel aufzuräumen. Die Träume sind längst versickert, natürlich, aber da waren noch Sachen zu tun.
Wiederentflammte Begeisterung: die deutsche Romantik; ihr abseitigerer Zweig. Wunsch, mit Licht und Wolldecken ausgestattet in einer Bibliothek eingeschlossen zu werden; zugleich (theoretische) Verzweiflung, weil ich mir ja doch nicht alles merken könnte.
Und, ach, der dritte Teil vom Kater Murr!
M., dessen Karte mit Besserung mich so gefreut hat, vermisse ich retrograd als Kindheitsfreund.
Immer fehlt eine Vokabel, ein besseres Wort; nie ist eine Decke lang genug, und Tee: erst zu heiß, dann kalt.
Merke: Wenn mir was fehlt, bleibe man mir tunlichst fern.
Reisender, willst du nach Süden, so bringt dich die Bahn bis Rastatt. In der Gegend hat sie leider ihre Gleise verloren; drum herrscht, bis Baden-Baden, Schienenersatzverkehr.
Eine Stunde mehr, Reisender, plane ein. Der Zug hält in Rastatt, wo er sonst nicht gehalten hätte; wie auch, er paßt ja kaum in dieses Bahnhöfchen. Und dann entfaltet sich das Schauspiel, wie zwei Ladungen Zugpassagiere am viel zu engen Bahnsteig gleichzeitig aus- und einsteigen wollen. Man drängt sich, man hat Streß, man fährt sich gegenseitig mit Rollkoffern über die Füße, aber irgendwie geht es: eine Woge Menschen ergießt sich auf den Bahnhofsvorplatz und strömt in Richtung der wartenden Busse.
Dort stehen Leute in Warnwesten und dirigieren: Busse in Lücken, Menschen mit Handgepäck in Reise-, Menschen mit Kinderwagen in Niederflurbusse. Es gibt viel zu regeln: Wir haben eine Haltestelle bekommen, sagt ein Warnwestenmann, die müssen wir dreifach belegen, sonst kommen wir nicht nach. Auch das klappt, wunderbarerweise: Alle Menschen mit allem Gepäck werden weitertransportiert.
In den Fahrzeugen ist es eng und gemütlich. Vor allem in den Kurven kommt man leicht ins Gespräch. Neinnein, nichts passiert. Waren Sie wandern? Schöne Gegend hier, doch. Festhalten ... Oh, schon da? Das ging schnell.
In Baden-Baden dann das umgekehrte Spiel: raus aus den Bussen; die besonders Eiligen sind sich selbst die Nächsten, die anderen grinsen einander zu in Komplizenschaft. Es wird kaum geschimpft; es gibt wenig Grund zu schimpfen. Rein in den Zug, und weiter geht's. Na, Reisender? War doch gar nicht so tragisch.
Ich habe das ja immer gern, wenn's außergewöhnlich zugeht.
Der Sessel ist bequem. Verdächtig bequem; und die Aussicht herrlich, einmal über die ganze Stadt. Ich könnte mich glatt entspannen, aber da kommt die Reinigerin. Mein Blutdruck schnellt nach oben.
Die Reinigerin ist blond, blutjung, hat einen vage osteuropäischen Akzent und lächelt wie ein Engel. Sie hängt mir ein Papierlätzchen um und kippt meinen Sessel hintenüber; ich sinke in die anschmiegsamen Polster. Dann blendet mich eine grelle Lampe. Ich meine ein mißbilligendes Schnalzen zu hören, einen Wie-sieht-das-aus!-Laut. Wann waren Sie? Wo war das? Wieso nicht?
Nach dem Verhör legt sie mir eine Brust auf die Stirn und greift zum Werkzeug. Weit auf, sagt sie. Und die Lippen entspannen! Wenn etwas ist, heben Sie die linke Hand. (Die klemmt unter dem Instrumententisch.) Es kratzt und reißt, klirrt und schrappt, alles innerhalb meines Schädels. Ich schließe die Augen. So sieht die Reinigerin aus wie eine vierzigjährige Offizierin der sowjetischen Armee.
Sie geht mit grimmer Energie zu Werke, meine Mundhöhle wird zum Schlachtfeld. Plaques und Verfärbungen werden aufgestöbert und erbarmungslos entfernt; hie und da landet ein Haken kollateral im Fleisch, prallt Metall auf unbeteiligten Zahnschmelz. Ich halte die Augen geschlossen.
Auf meinem Lätzchen stapeln sich Tiegel und Tinkturen, Haken, Kratzer, Schleifer, Polierer. Und jetzt, sagt die Reinigerin, der Sandstrahler. Sie setzt mir eine Schutzbrille auf: Es spritzt, da decken wir die Patienten so weit wie möglich ab. Dann wird mein Gebiß gekärchert, daß mir Hören und Sehen vergeht.
Irgendwann erstirbt alles Geräusch. In die dröhnende Stille ertönt das Kommando: Gründlich spülen! Während ich Blut spucke, doziert die Reinigerin, wie man Zähne putzt.
Dann reicht sie mir mit geradezu gelöstem Gesichtsausdruck einen Spiegel: Na, ist das nicht besser? Aus meinen Ohren rieselt feinster Sand, aber mein Gebiß strahlt. Ich lächele schmerzlich zurück und wanke aus der Praxis.
Wie der Sommer den Eindruck erweckt, vorbei zu sein: Kälte zum Morgen, müde Wespen, Blätter im Rinnstein, Krähen statt Amseln. Die Männer von der Stadtreinigung tragen ihre Sicherheitsjacken, als müßten sie schon gegen Nebel anleuchten.
Meine jahrelange Mailadresse habe ich verloren. Alle X Tage einloggen, ein Mal nicht aufgepaßt. Ich konnte so schon eine ganze Weile nur unter Schwierigkeiten kommentieren; nun hat ein Blog, das ich sehr gern gelesen habe – sogar Artkel übers Tanzen (ich!) –, ganz und gar geschlossen. Das ist nicht die Sorte Herbst mit Fülle und Ernte, sondern die mit dem Blätterfall und dem kalten Wind in der Nacht.
Eine alte Frau in der Fußgängerzone hält mit der einen Hand den Rollator fest, mit der anderen ein Mobiltelefon ans Ohr und brüllt: Nee, hawwisch ewisch net gesehe. – Weesisch aach net, villeischt gestorwe?
Kakaohaltige Fettglasur, sagt M., ist ein fürchterliches Wort. Verhält sich zu Schokolade etwa wie Geschlechtsverkehr zu Liebemachen. M. hat Vergnügen an Wörtern, denn was man handhaben muß, findet er leicht zu frickelig.
Ich bewundere heimlich seine gemessenen Bewegungen, die Sparsamkeit und Zweckmäßigkeit all dessen, was er tut. Nichts daran weist hin auf die Stürme in ihm, seine Schwärzen.
Ihn, der so arg dicht am Mahlstrom der Vergänglichkeit gebaut hat, über eintausendundfünfhundert Puzzleteilen auf dem Wohnzimmerboden völlig versunken zu sehen, verblüfft mich.