Der Sessel ist bequem. Verdächtig bequem; und die Aussicht herrlich, einmal über die ganze Stadt. Ich könnte mich glatt entspannen, aber da kommt die Reinigerin. Mein Blutdruck schnellt nach oben.
Die Reinigerin ist blond, blutjung, hat einen vage osteuropäischen Akzent und lächelt wie ein Engel. Sie hängt mir ein Papierlätzchen um und kippt meinen Sessel hintenüber; ich sinke in die anschmiegsamen Polster. Dann blendet mich eine grelle Lampe. Ich meine ein mißbilligendes Schnalzen zu hören, einen Wie-sieht-das-aus!-Laut. Wann waren Sie? Wo war das? Wieso nicht?
Nach dem Verhör legt sie mir eine Brust auf die Stirn und greift zum Werkzeug. Weit auf, sagt sie. Und die Lippen entspannen! Wenn etwas ist, heben Sie die linke Hand. (Die klemmt unter dem Instrumententisch.) Es kratzt und reißt, klirrt und schrappt, alles innerhalb meines Schädels. Ich schließe die Augen. So sieht die Reinigerin aus wie eine vierzigjährige Offizierin der sowjetischen Armee.
Sie geht mit grimmer Energie zu Werke, meine Mundhöhle wird zum Schlachtfeld. Plaques und Verfärbungen werden aufgestöbert und erbarmungslos entfernt; hie und da landet ein Haken kollateral im Fleisch, prallt Metall auf unbeteiligten Zahnschmelz. Ich halte die Augen geschlossen.
Auf meinem Lätzchen stapeln sich Tiegel und Tinkturen, Haken, Kratzer, Schleifer, Polierer. Und jetzt, sagt die Reinigerin, der Sandstrahler. Sie setzt mir eine Schutzbrille auf: Es spritzt, da decken wir die Patienten so weit wie möglich ab. Dann wird mein Gebiß gekärchert, daß mir Hören und Sehen vergeht.
Irgendwann erstirbt alles Geräusch. In die dröhnende Stille ertönt das Kommando: Gründlich spülen! Während ich Blut spucke, doziert die Reinigerin, wie man Zähne putzt.
Dann reicht sie mir mit geradezu gelöstem Gesichtsausdruck einen Spiegel: Na, ist das nicht besser? Aus meinen Ohren rieselt feinster Sand, aber mein Gebiß strahlt. Ich lächele schmerzlich zurück und wanke aus der Praxis.
Wie der Sommer den Eindruck erweckt, vorbei zu sein: Kälte zum Morgen, müde Wespen, Blätter im Rinnstein, Krähen statt Amseln. Die Männer von der Stadtreinigung tragen ihre Sicherheitsjacken, als müßten sie schon gegen Nebel anleuchten.
Meine jahrelange Mailadresse habe ich verloren. Alle X Tage einloggen, ein Mal nicht aufgepaßt. Ich konnte so schon eine ganze Weile nur unter Schwierigkeiten kommentieren; nun hat ein Blog, das ich sehr gern gelesen habe – sogar Artkel übers Tanzen (ich!) –, ganz und gar geschlossen. Das ist nicht die Sorte Herbst mit Fülle und Ernte, sondern die mit dem Blätterfall und dem kalten Wind in der Nacht.
Eine alte Frau in der Fußgängerzone hält mit der einen Hand den Rollator fest, mit der anderen ein Mobiltelefon ans Ohr und brüllt: Nee, hawwisch ewisch net gesehe. – Weesisch aach net, villeischt gestorwe?
Kakaohaltige Fettglasur, sagt M., ist ein fürchterliches Wort. Verhält sich zu Schokolade etwa wie Geschlechtsverkehr zu Liebemachen. M. hat Vergnügen an Wörtern, denn was man handhaben muß, findet er leicht zu frickelig.
Ich bewundere heimlich seine gemessenen Bewegungen, die Sparsamkeit und Zweckmäßigkeit all dessen, was er tut. Nichts daran weist hin auf die Stürme in ihm, seine Schwärzen.
Ihn, der so arg dicht am Mahlstrom der Vergänglichkeit gebaut hat, über eintausendundfünfhundert Puzzleteilen auf dem Wohnzimmerboden völlig versunken zu sehen, verblüfft mich.
Wetter zum Kindereinweichen, aber gute Zeiten.
Kind 1 ist neun, Kind 2 fünf. Manchmal lehnt sich 1 zu mir herüber, wenn 2 vor Freude quietscht oder etwas auf den Teller zurückspuckt oder einen Fäkalwitz macht, und wispert mir zu: Als ich in dem Alter war, habe ich das auch so gemacht.
Ein Zwei-Stunden-Zyklus verläuft folgendermaßen: Die beiden spielen miteinander, 2 ärgert 1 ein wenig, steigert das, bis 1 zuschlägt, dann heult 2, 1 hat ein schlechtes Gewissen, macht Zugeständnisse an 2. Da capo ad nauseam.
Beim Kaffeetrinken (die Kinder kriegen heiße Milch) berichtet 2, wie eine blutende Wunde versorgt worden sei, nachdem dank Smartphone-Videoinspektion festgestanden habe, daß es nichts Schlimmes ist. Als 1 von einem sehr alten Film erzählt, den sie gesehen hätten, eine DVD!, müssen T. und ich lachen.
Ich stelle fest, daß die beiden enorme Begeisterung für die alten, wüsten Lagerfeuerwechselgesänge aufbringen. Sie haben ein gutes Gedächtnis und laute Stimmen: Enemene-hexamene-oa-poademene! Enemene-salamene-oa-poa! Das müßten die Nachbarn jetzt eigentlich auch alle können und sind vermutlich weniger betrübt als ich, als die beiden mit ihren Rollköfferchen singend das Haus verlassen.
Noch Tage nach dem Besuch finde ich zwischen Möbeln und unter Teppichen von 2 versteckte Bücher, die 1 hatte lesen wollen.
T., würdest du ein paar Tage mein Haustier hüten? – Wenn's nicht haart, beißt oder auf den Teppich pinkelt, sicher. – Verpuppte Raupen sind harmlos. Dann kann ich also beruhigt nach Berlin.
Ein Museum, eine Biermeile, ein Essen im hipsten Ding der Stadt, eine Gartenausstellung, ein Reisefotoalbum; immer mit Familienanschluß. Oh, und ein Hotel ohne Außen: Fenster zur Halle mit der Rezeption, Himmel nur durch Glas und Gitter, Wetter aus der Klimaanlage und im Internet. So stelle ich mir das auf einer Raumstation vor. Nach zwei Nächten hab ich Hals; in Berlin schläft man besser bei Freunden unterm Eßtisch.
R. ist von der Ostseeküste, Surfer, Alleinwanderer, Bärenvertreiber und Geschichtenerzähler. Er selbst war beim Mauerfall noch keine fünf, aber seine Schwester, schon auf der weiterführenden Schule, bereitete sich gerade für eine Klassenarbeit vor. Geschichte, angesetzt für den 10. November. Die Mutter wollte sie vor den Fernseher holen: Komm, das hier ist auch Geschichte!, aber sie habe nicht gewollt und gejammert: Nein, ich muß für morgen lernen!
Heimreise mit dem Zug. Eine Frau wird laut, als ein Mann sich mit Gepäck an ihr vorbeidrückt: Muß ich mich in Deutschland von einem Ausländer anrempeln lassen!, Thüringer Akzent, sofort rasten alle Vorurteile ein. Ich fühle mich unwohl.
Zuhause hat gewartet, mit geschlossenen Fenstern, bißchen stickig ist es. Ich habe Socken für den Winter geschenkt bekommen, und im Kühlschrank liegt ein sehr kleines Stück von einem sehr großen Tier. Am Tag nach der Rückkehr schlüpft in der Küche unbemerkt der Falter und flattert vor der Scheibe; ich fange ihn ein. Vom Balkon fliegt er in elegantem Bogen davon.
Das Jahr ist nun schon mehr als halb vorbei.