Kind 1 ist für zwei Tage alleine da, tolle Sachen für Zehnjährige machen, die noch nichts sind für Kind 2 mit sechs.
Es ist nicht einfach. So sehr sie sich sonst in den Haaren liegen, so sehr fehlen sie einander; zumindest 1 macht sich Gedanken: ob 2 sich langweilt? Wir schreiben eine Postkarte aus dem Museum und eine aus dem Café. Abends gibt es Tränen: vielleicht hat 2 ja Angst allein?
Am dritten Tag lauert 1 auf die Türklingel: 2 kommt mit B zum Abholen! Weinend stürzen sie sich an der Haustür in die Arme, aber das Glück währt kaum die Treppe hoch; dann ist 1 beleidigt, weil 2 sich gar nicht richtig gefreut hätte.
Als das Gezänk zu arg wird, spricht B ein ernstes Wort. Reiß dich zusammen, 1, du bist älter! Und 2, provozier nicht dauernd! – 1 lenkt ein und denkt sich zur Versöhnung für 2 ein Märchen aus. Ein paar Minuten geht das gut; dann streiten in meiner Küche Prinzessin Traumana und der Drache Kolumbus, wer hier eigentlich wen entführt hat.
Nur noch acht, zehn Jahre maximal, tröste ich B. Sie schaut grimmig: Und so wie ich das kenne, gehen die viel zu schnell vorbei.
Es sind immer noch deutlich mehr Männer, die meisten mit breiten Schultern und Händen, Ingenieure, Handwerker, Angestellte, Studenten, Familienväter. Viele Raucher. Sie wechseln schnelle Worte und bissige Scherze, man kennt sich ewig und ist auch über große Distanzen befreundet. Sie sehen, wo die Arbeit ist, und wissen anzupacken. Da drückt sich keiner.
Wenn der Alarm kommt, läßt man alles stehen und liegen; es rücken die aus, die am schnellsten in der Zentrale sind. Und dann kann es alles sein.
Den ersten vergißt man nicht, sagt A. Die Toten werden nicht weniger schlimm, aber der erste fällt einem immer wieder ein; der, und die Kinder. Die eigene Machtlosigkeit. Manche machen Witze darüber, andere machen es mit sich aus. Wieder andere reden. Da sind die Leute verschieden.
A hat sein Leben im Griff. Er sorgt vor. Er durchdenkt alles bis zum Ende. Er lacht leicht, und wenn er lacht, bebt der Boden; so lacht vielleicht nur einer, der weiß, daß nichts sicher ist als das Ende.
Meinen Wanderhut habe ich auf Empfehlung von E gekauft. E kann man fragen, er hat den Überblick über den Markt und kennt den Stand der Technik. Selber hat E lauter atemberaubend funktionale Dinge, allesamt arktissicher, erdbebenfest und haltbar bis in die Ewigkeit. Das Beste vom Besten.
So nun auch mein Hut: gut belüftet, reißfest, sogar schwimmen kann er. Ich paddle damit zwar nicht auf dem Amazonas, aber er krönt mein Ensemble aus Jeans und löchrigem T-Shirt, und auf den Feldwegen der deutschen Mittelgebirgslandschaften schützt er mich verläßlich vor Sonnenbrand auf der Nase.
R wird gehen, das steht nun fest.
Am Anfang, sagt U, war er wütend. Diese Ausfälle. Wie kann der kluge, witzige Mensch, den man dreißig Jahre kennt, plötzlich das Ausräumen des Geschirrs in der Teeküche nicht mehr auf die Kette kriegen? Überfordert sein von einer Spülmaschine? Von Akten? Von Gesprächen? Die Diagnose brachte Klarheit. Alles paßt zusammen, nur das Alter nicht.
Jeden Tag kommt R ins Büro; man merkt erst mal nichts, wenn man nicht länger mit ihm zu tun hat. U wird den Freund und Kompagnon nicht vor die Tür setzen. Das bringt er nicht; arbeitet er halt für zwei ...
R wird verschwinden, unkenntlich werden, fremd im eigenen Leben, und irgendwann wird er fort sein.
Mit schwerem Herzen denke ich an U.
Erinnerst du dich, fragt S beim Kaffee, an unsere alte Musiklehrerin? Natürlich erinnere ich mich. Frau F wollte mal Karriere als Konzertpianistin machen; aber ein Unfall, eine Verletzung der Hände – so wurde sie Lehrerin. Sie trug die Haare in einem roten Nest und hatte ein schönes, markantes Profil. Die Schüler lachten über sie. Eigentlich kam sie wohl nur in die Schule, um den Flügel zu benutzen; in ihren Freistunden füllte sie den gesamten Bau mit Musik.
Die ist jetzt auch im Heim, sagt S. Sie habe sie an das Klavier im Aufenthaltsraum gesetzt, um ihr eine Freude zu machen, aber Frau F habe vergessen, wie man spielt. Alles habe sie vergessen, vielleicht sogar die Musik ganz und gar.
So viele Demente, fährt S fort und nimmt sich Milch. Die Leute bleiben immer länger körperlich gesund, jaha, noch stimmt das; aber die Zähen, die, die Verzichten und Durchkommen gelernt haben, die sterben jetzt allmählich weg. Die Späteren, da ist S sicher, die können nichts mehr ab. Lauter Verweichlichte, die beim ersten Hindernis die Segel streichen. Bald hat sich das mit dem Immer-Älter-Werden, prophezeit S.
(T nennt sie "die Apokalyptische", wenn sie nicht da ist.)