Der Sturm ist vorübergezogen.
Irgendwo beim Kaufhaus wohnt ein Mann, ich sehe ihn morgens mit seiner Isomatte an der Bushaltestelle vorm Eingang, groß und scheu; nie nimmt er Blickkontakt auf, aber einmal starrte er auf meine schlammverkrusteten Schuhe. Einmal kaufte er drinnen ein Glas Naturjoghurt und aß ihn draußen auf der Bank; einmal hatte er Haare und Bart geschnitten. Er scheint nicht zu trinken, nicht zu lesen, nicht zu sprechen. Ich weiß nicht, ob er sich langweilt; vielleicht hat man dazu keine Zeit, wenn man überleben muß. Vorstellen kann ich es mir nicht.
Die Frau, die mich heute ansprach, trug Grün: hellgrüne Jeans, knallgrüne Jacke, darunter einen Strickpullover von sanfterem Ton; an der dunkelgrünen Tasche hing ein geblümtes Tuch, so daß ich nicht als erstes dachte: ohne festen Wohnsitz, sondern: wow, was für ein Sinn für Farben. Sie sei mittellos, sagte sie sachlich und ging dann, trotz verfilzter Haare nicht ohne Eleganz, ihrer Wege.
Das Haus mit der kleinen Wäscherei wird abgerissen, die Kirche hat’s verkauft; die Mieter müssen bis Ende des Jahres raus. Geplant ist ein Block mit Luxusapartments. Genau das, was die Stadt jetzt braucht.
Der Radweg versackt in schlammigem Wasser, das Geländer hält sich etwas länger oben. Mit der Strömung rutschen die Möwen draußen auf dem Fluß rückwärts, fliegen auf, setzen sich dann stromaufwärts aufs Wasser und treiben, Bürzel voran, wieder vorbei. Das andere Ufer ist so weit weg wie selten. Es weht eisig auf der Promenade.
Am Anleger lecken Wellen, jemand hat auf die Kaimauer einen Eßzimmerstuhl gestellt. Ein Mann kauert auf den Stufen daneben, wo sie gerade noch trocken sind, und spielt Mundharmonika.
Einen anderer kommt mir entgegen, er wird auch näher kaum größer, der Hut wie von einem Erwachsenen geborgt, der Mantel aus Flicken wie Gefieder, die Füße ragen aus weiten Hosenbeinen. Er spricht lebhaft, dem Fluß zugewandt, ich verstehe kein Wort. Ich kann nicht anders, nach ihm drehe ich mich um, vielleicht breitet er die Flügel aus und fliegt übers Wasser davon, mit den Möwen spielen, vielleicht.
Ich muß bis drei zählen, hundertacht mal: bis drei, nicht aber bis zur Vier, die Fünf scheidet ganz aus.
Stellt sich raus: kann ich nicht. Nicht, wenn ich dabei etwas machen soll, nichts notieren kann und auch nur ein Buch im Regal im Nebenraum umkippt. Laut mitsprechen hilft auch nie lang.
Ich entnehme meiner Steinsammlung drei Exemplare. Zwei sandfarbene, glatte; einen schwarzen Schlackenstein, auf den ersten Griff und auch vom Gewicht her von den anderen beiden zu unterscheiden. Dazu brauche ich zwei Gefäße; ich wähle stabile Glasschüsseln von unterschiedlicher Größe und verschiedenem Klang.
Die Eins ist der schwarze Stein, der wandert von einer Schüssel in die andere, die wie eine Glocke klingt. Bei zwei und drei klingt die Schüssel nicht mehr gar so rein; würde ich versehentlich rückwärts zählen, könnte ich das an der Tonhöhe hören. Ein Blick auf die Schalen sagt mir, ob der schwarze Stein in der richtigen liegt. So ist es machbar, hundertacht mal.
Nun muß ich nur noch darauf achten, daß ich am Ende des Arbeitsschrittes zähle, nicht mittendrin oder sonstwann.
(Ein Glück, daß ich bis drei zählen muß und nicht bis zwei.)
P.S.: Gegen die Spamflut scheint zu helfen, die Namen in den Trollfilter einzutragen; zumindest hatte ich schon länger keinen Müll mehr in den Kommentaren. Vielleicht hatte ich aber auch einfach nur Glück.
Sie war mir einmal das größte Vergnügen; ich kannte sie so gut das nur möglich war, hatte mehr Freude mit ihr als Mühe, aber dann waren doch andere wichtiger, habe ich sie für Jahrzehnte links liegen lassen, und nun: achje, auweia, lange her. Also habe ich mir einen Lehrer gesucht, dem mein guter Wille reicht, um neue Schritte in die alte Sprache zu wagen.
Je nun.
Die Begeisterung ist sofort wieder da. Das verknappt Verzierte, die Netze aus Klang und Anspielung, die vielen Schichten von Sinn in einer Handvoll Silben: ich sehe es. Aber, ach, ich komme nicht dran. Alle zwei Wörter ein: Oh, das wußte ich mal. Es ist wie Lesen ohne Brille. Ein paar Gewißheiten, und den Rest raten. Grammatik: löchrig. Vokabeln: allesamt entfleucht. Sprachgefühl: schlaftrunken.
Ich bin traurig. Die Schöne, mit der ich früher Hand in Hand ging, dreht sich nicht mal mehr nach mir um.
Ich muß mehr Blumen besorgen.
2020, das begann mit einem Tag voll Sonnenlicht und klingt so hübsch und rund. Gemächlicher ist es nicht.
Zwei Damen in der Tram: wie froh sie seien, jetzt alt zu sein und nicht die Zukunft noch vor sich zu haben.
Neue Dinge: Kleider machen. Eine alte Sprache neu anprobieren.
Wanderwege als Notausgänge.
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