Die Stadt steht still; das mag ich. Nein, ich hamstere nichts; ja, ich bleibe für mich. Es fehlt weder an Büchern, Netz, Arbeit, Wolle noch an Leitungswasser. Sogar Wein wär noch da.
Zunehmend auf die Nerven geht mir der Ton von DIE sind schuld. "Ich kann keine Gesichtsmasken kaufen, Merkels Politik hat versagt". Echt. In Blogs von alten Bekannten werden zunehmend Wahrnehmungen zu Wahrheiten, Verschwörungtheorien sind immer nur einen Klick entfernt. Mißmut regiert. Ich kommentiere nicht mehr und frage mich, ob das richtig ist.
Schönere Dinge: Eine liebe Blogfreundin will einen Online-Zeichenkurs geben; ich habe erwogen, Schreibspiele zu veranstalten mit anderen gelangweilten Netznutzern. Man muß was zu denken haben, und Pestzeiten haben uns die schönsten unanständigen Geschichten beschert.
Die Nachrichten von den griechischen Inseln sind schmerzhaft häßlich, aber am schlimmsten finde ich den Ton der Betroffenheit unserer Regierungsvertreter. Und daß die Lösung für alles Frontex heißen soll.
Mich verblüfft, wie ein mikroskopisch kleines Stück Information unser globales System aus Vernetzung und Wachstum-Wachstum-Wachstum aus dem Gleichgewicht werfen kann. Der Kapitalismus ist ein Radfahrer ohne Pedale: auf Schußfahrt ist alles kein Problem, aber wehe, er muß mal bremsen.
Derweil verlangt ein Mann im Unverpackt-Laden einen Fünf-Kilo-Sack Nudeln, so einen, wie sie in die Verkaufsgefäße gefüllt werden, ganz: Hamsterkauf in Dinkel und bio.
In meiner kleinen Welt tragen liebe Menschen Dinge, die ich gemacht habe; hat H eine Schreibtischschublade aufgekriegt, die mein ganzes Leben lang nicht zu öffnen war; ist Antville dank freundlicher Leute wieder mehr Inhalt als Spam. Und bei zunehmendem Frühling versucht es im Viertel wieder eine Amsel. Das Leben könnte schön sein, wirklich.
Aus der Seele: Zur Lage.
Der Sturm ist vorübergezogen.
Irgendwo beim Kaufhaus wohnt ein Mann, ich sehe ihn morgens mit seiner Isomatte an der Bushaltestelle vorm Eingang, groß und scheu; nie nimmt er Blickkontakt auf, aber einmal starrte er auf meine schlammverkrusteten Schuhe. Einmal kaufte er drinnen ein Glas Naturjoghurt und aß ihn draußen auf der Bank; einmal hatte er Haare und Bart geschnitten. Er scheint nicht zu trinken, nicht zu lesen, nicht zu sprechen. Ich weiß nicht, ob er sich langweilt; vielleicht hat man dazu keine Zeit, wenn man überleben muß. Vorstellen kann ich es mir nicht.
Die Frau, die mich heute ansprach, trug Grün: hellgrüne Jeans, knallgrüne Jacke, darunter einen Strickpullover von sanfterem Ton; an der dunkelgrünen Tasche hing ein geblümtes Tuch, so daß ich nicht als erstes dachte: ohne festen Wohnsitz, sondern: wow, was für ein Sinn für Farben. Sie sei mittellos, sagte sie sachlich und ging dann, trotz verfilzter Haare nicht ohne Eleganz, ihrer Wege.
Das Haus mit der kleinen Wäscherei wird abgerissen, die Kirche hat’s verkauft; die Mieter müssen bis Ende des Jahres raus. Geplant ist ein Block mit Luxusapartments. Genau das, was die Stadt jetzt braucht.
Der Radweg versackt in schlammigem Wasser, das Geländer hält sich etwas länger oben. Mit der Strömung rutschen die Möwen draußen auf dem Fluß rückwärts, fliegen auf, setzen sich dann stromaufwärts aufs Wasser und treiben, Bürzel voran, wieder vorbei. Das andere Ufer ist so weit weg wie selten. Es weht eisig auf der Promenade.
Am Anleger lecken Wellen, jemand hat auf die Kaimauer einen Eßzimmerstuhl gestellt. Ein Mann kauert auf den Stufen daneben, wo sie gerade noch trocken sind, und spielt Mundharmonika.
Einen anderer kommt mir entgegen, er wird auch näher kaum größer, der Hut wie von einem Erwachsenen geborgt, der Mantel aus Flicken wie Gefieder, die Füße ragen aus weiten Hosenbeinen. Er spricht lebhaft, dem Fluß zugewandt, ich verstehe kein Wort. Ich kann nicht anders, nach ihm drehe ich mich um, vielleicht breitet er die Flügel aus und fliegt übers Wasser davon, mit den Möwen spielen, vielleicht.
Ich muß bis drei zählen, hundertacht mal: bis drei, nicht aber bis zur Vier, die Fünf scheidet ganz aus.
Stellt sich raus: kann ich nicht. Nicht, wenn ich dabei etwas machen soll, nichts notieren kann und auch nur ein Buch im Regal im Nebenraum umkippt. Laut mitsprechen hilft auch nie lang.
Ich entnehme meiner Steinsammlung drei Exemplare. Zwei sandfarbene, glatte; einen schwarzen Schlackenstein, auf den ersten Griff und auch vom Gewicht her von den anderen beiden zu unterscheiden. Dazu brauche ich zwei Gefäße; ich wähle stabile Glasschüsseln von unterschiedlicher Größe und verschiedenem Klang.
Die Eins ist der schwarze Stein, der wandert von einer Schüssel in die andere, die wie eine Glocke klingt. Bei zwei und drei klingt die Schüssel nicht mehr gar so rein; würde ich versehentlich rückwärts zählen, könnte ich das an der Tonhöhe hören. Ein Blick auf die Schalen sagt mir, ob der schwarze Stein in der richtigen liegt. So ist es machbar, hundertacht mal.
Nun muß ich nur noch darauf achten, daß ich am Ende des Arbeitsschrittes zähle, nicht mittendrin oder sonstwann.
(Ein Glück, daß ich bis drei zählen muß und nicht bis zwei.)
P.S.: Gegen die Spamflut scheint zu helfen, die Namen in den Trollfilter einzutragen; zumindest hatte ich schon länger keinen Müll mehr in den Kommentaren. Vielleicht hatte ich aber auch einfach nur Glück.
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