Der Himmel scheint an den Dachfirsten aufzuplatzen; innerhalb einer Stunde ist die Straße dick verschneit, nach einer weiteren steht der Matsch knöcheltief. Mittagspause im Café, sind T. und ich uns einig. Warm und trocken und gemütlich. Er hat mir sein neues Buch mitgebracht, frisch aus dem Verlag. Ich bekomme es mit Widmung.
Als es allmählich voll wird, wollen wir aufbrechen, aber das Zahlen ist heute schwierig: T. ist 2,50 schuldig, ich hatte Kuchen, daher 5,50. T. hat drei klein. Ich habe nur einen Zehner. Wenn wir jetzt neun Euro, nicht getrennt zahlen und nicht auf das Wechselgeld warten wollen ... Wenn du mir jetzt einen gibst, und ich lege elf ... äh, innerhalb kürzester Zeit sind wir komplett verwirrt, ein Hütchenspiel, das wir mit uns selbst spielen als Trickster, Betrogene und Publikum zugleich. Wir diskutieren wortreich, schieben das Geld auf der Tischplatte hin und her, von so geht es doch zu nein, doch nicht dauert es immer ein paar Momente, laß uns einfach die Zeche prellen, irgendwann löst sich sowieso alles in Gelächter auf; da merke ich, daß die junge Frau am Nachbartisch uns aufrichtig entsetzt anstarrt.
Sehen Sie hier, meine Dame, hätte ich ihr sagen können, den Grund, warum es Steuerberater gibt.
Der Löwe hat alle vier Tatzen, vier perfekte Katzentatzen im Gigantenformat, an die Scheibe gedrückt. Er schläft; gelegentlich zuckt ein Bein, oder ein Ohr wendet sich nach etwas Erträumtem. Während die Zoobescher ihre Kameras auf ihn gerichtet halten, wird der Löwe lange genug wach, um sich mit minimalem Aufwand hinter einen Baumstamm zu wälzen; dann schläft er, unbehelligt von Blicken und Objektiven, weiter.
Mein Lieblingstier in diesem Zoo ist ein halbwüchsiger Bonobo. Während wir sein Geschwisterchen beim Kletterunterricht beobachten (süüüüß!), erklimmt er das Netz oberhalb der Scheibe, zielt und pinkelt mit Schwung in die Besuchergruppe. Wir machen eilige Ausfallschritte, aus der Höhe von ihm beäugt.
Mir fällt der Gorilla in Hellabrunn ein, der, als eine Traube Besucher an die Scheibe des Geheges drängte, sich mit Anlauf und voller Wucht von innen dagegenschmiß. Die Leute schrien, stoben auseinander, einige landeten auf dem Hintern; der Gorilla zog sich in einen abgelegenen Teil des Geheges zurück, als wäre nichts gewesen. Ziemlich exakt nach der Zeit, die es braucht, bis so eine Besuchergruppe komplett ausgewechselt ist, nahm er wieder Anlauf ...
Es ist schließlich nicht einzusehen, warum die Zooinsassen bloß uns was bieten sollten.
Die Hölle, die trägt man untenrum.
Angesichts einer Horde tobender Jugend vorm Museum bemerkt T.: Vierzehn, das war auch kein schönes Alter. Immer dieser Ansturm der Gefühle, wie bei Romeo und Julia: Wo ist mein Schwert? Wo die Phiole mit dem Gift? Wie schreibt man Phiole?
Dann zählt er auf, wie viele seiner Altersgenossen die Pubertät nicht geschafft haben. Erstaunlich viele Schußwaffen kommen vor; und Autos und Motorräder, natürlich. Ich merke, wie wenig mir Liebeskummer als Grund einleuchten will.
Einer habe eine Kassette hinterlassen mit Abschiedsworten, aber genau in den Sekunden nach dem "weil" sei ein Trecker vorm Haus vorbeigefahren, und man habe nichts weiter verstanden. (Das zumindest hätte die Familie behauptet.)
T., drohe ich, wenn du deine Geschichten nicht aufschreibst, dann mache ich das.
In die alte Heimatstadt fahre ich immer noch mit einem Phantomschlüssel in der Tasche; dabei ist die Wohnung natürlich längst neu vermietet. Andere Läden in der Straße (keine Verbesserung), die Bäume kränkeln, ein bißchen schäbig sieht es aus. Das habe ich früher wohl liebevoll übersehen.
Unterschlupf finde ich bei M.s im Geschäft. Er ist gebeugter als beim letzten Mal, sie so zart geworden, man schließt die Ladentüre mit Behutsamkeit. Die Angestellten sind jetzt allesamt in Rente. Ich bekomme Kuchen, ein Weihnachtsgeschenk und die Neuigkeiten. Sie seien jetzt eine Sehenswürdigkeit: junge Leute brächten ihre Eltern her, um ihnen dieses Geschäft zu zeigen.
Fragen, wie es ihnen geht, weichen sie elegant aus, aber ich kann es mir denken. Ich leiste mir ein paar wunderschöne Dinge und wünschte, ich bräuchte mehr.
Auf dem Heimweg, der sich erst ab der Mitte wirklich wie Heimweg anfühlt, lese ich: Gottfried Keller, Sieben Legenden. Eine Zumutung.
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