Schnee macht schön: ist das wirklich dieses struppige Gehölz am Stadtrand? Die sterilen Vorgärten sind weich zugedeckt, alle alten Obstbäume mit Rheumadecken versorgt. Häuser kuscheln sich im Bett aus Feldern zusammen, jedes Dach eine Handvoll Himmel, die Ferne wie Rauch. Mein Buch bleibt zu auf dieser Zugfahrt: so erfreulich habe ich die alte Heimat schon lange nicht mehr gesehen.
Es knackt unter meinen Schritten und knistert auf dem Regenschirm; sonst ist das Städtchen so still, wie das nur der erste Schnee des Jahres hinbekommt. Auf Mäuerchen, in Einfahrten stehen weiße Gestalten, manche gerade eine Spanne groß, manche ausgewachsene Schneemänner samt Rübennase.
Am schönsten ist die Aussicht übers Land aus dem achten Stock, so was haben hier nur Krankenhäuser. Trotzdem mag ich da nicht hin. Auch nicht, ach was: schon gar nicht als Besucherin.
Mich bekümmert, daß ich nicht an C.s Todestag gedacht habe; es war ja dieses Jahr wie als er starb: ich war unterwegs, noch ein wenig loser in der Zeit als ohnehin. Aber so viele andere haben ihn nicht vergessen. So vielen fehlt er.
Als ich H. jüngst besuchte, war sein Bücherschrank geplündert; ein Stapel Bücher lag im Flur, falls die jemand brauchen kann. Nie würde sie, sagte H., Dinge wegwerfen, die ihm wichtig gewesen wären. Ich war wohl schroff. Die Bücher trug ich zurück in C.s Arbeitszimmer: dieses hatte ein Freund geschrieben, jenes paßte dazu; mit diesen hatte er sich weiter eingearbeitet ... Buch für Buch stellte ich die Geschichte von C.s Interessen, eine brauchbare kleine Bibliothek, zurück in die leeren Fächer.
Dabei weiß ich ja, H. ist auch nur traurig.
Schon auf dem Weg zum Bahnhof muß ich mehrfach Menschen freundlich, aber bestimmt abwimmeln. Ist das die kalte Jahreszeit, oder wirke ich, wenn ich besonders ungesellig bin, besonders ansprechbar?
In der Sitzgruppe vor mir packt eine Frau mit Puppengesicht Tuben, Tiegel, Pinsel, Bürstchen, Spiegel und Lampe aus und deckt damit den Tisch vor sich ein. Dann hantiert sie nach offenbar festem Plan mit Farben und Pulvern, pinselt sich bald großflächig, bald detailliert im Gesicht herum, streicht, sprüht, zupft, tupft, schattiert, eine ganze Stunde lang; am Ende nimmt sie aus einem Kästchen ein Paar glanzgebürsteter schwarzer Raupen, bestreicht sie mit Leim und klebt sie sich an die Lider. Natürlich schaue ich hin, als sie sich in meine Richtung dreht: über ihr Puppengesicht hat sie sich ein weiteres Puppengesicht gemalt. Als sie den Waggon verläßt, ist ihr jede Oberfläche ein Spiegel.
Im meinem Koffer das Weihnachtsgeschenk des Jahres (ganz sicher): ein walnußgroßer Kieselstein. Das Konzept gefällt mir sehr.
Und Schnee. Schnee zum ersten Advent.
Was mir einfiele, schrieb eine Autorin und wies sämtliche Korrekturen und Änderungsvorschläge zurück.
Ich hätte antworten können: nun, ich mache meinen Job. Vor das Veröffentlichen hat die Projektleitung (so sie's ernst meint) das Lektorat gesetzt, und das bin ich. Nehmen Sie's nicht persönlich, hätte ich anfügen können, kaum ein Mensch schreibt wie gedruckt; das Lektorat sieht den Text sozusagen im Negligé, und wir zupfen dann ein bißchen dran herum oder reichen einen Mantel, um die Blöße zu bedecken, je nach dem. Uns ist da, hätte ich beruhigen können, wenig fremd. Und reden kann man ja bekanntlich über alles.
Nur: Wo hätte ich anfangen, wo aufhören sollen?
T.s Bücher haben Enden, charakteristisch für ihn, untypisch für sein Genre, die mir Vergnügen machen. In Rezensionen heißt es hingegen oft, der Schluß sei so kurz, komme so unvermittelt. Ich frage mich, wo das Anrecht der Leser darauf, ihre Erwartungen erfüllt zu bekommen, endet.
Kleiner Streit mit M., der kein Lob erträgt. Mir gefällt ein Text, er nennt ihn schwach; ich sage von einem Bild, daß es einen ganzen Schwarm Assoziationen mit sich bringt, er nennt es platt und unzensiert. M., sage ich, denn langsam habe ich doch genug davon, nicht für voll genommen zu werden, M., du mußt dich damit abfinden, daß die Hälfte deiner Texte beim Lesen entsteht, mithin in deinen Lesern.
L. hat gemerkt, daß es Bücher und Bücher gibt. Simple Geschichten stellen sie nicht mehr zufrieden; gegen die weniger simplen, die, in denen es an die Substanz geht, kann sie sich noch nicht wehren, die erträgt sie kaum vor Mitfühlen. Aus diesen Geschichten taucht sie auf wie aus einem Abgrund, einem Fieber, erschüttert, erleichtert. Ich bin sicher, die Krankheit wird einen chronischen Verlauf nehmen.
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