Montag, 20. November 2017

Lebkuchenland, natürlich; die ganze Stadt wirkt wie gebacken. In alten Modeln, doch der Stein scheint neu; zumindest frisch gekärchert. In sich selbst konserviert, steckt die Altstadt in einem Festungsmauerring. Hier und da schauen Giebel drüber weg, hier und da die Stirnen neuer Bauten. Schwer zu entscheiden, ob das idyllisch ist oder bedrückend. Ruhiger jedenfalls – vor der Maueranlage rauscht vielspuriger Verkehr.

Drinnen ist es wirr, Straßen, Gassen, Gäßchen, Plätze – Mittelalter rangelt mit StVO. Ich suche die Lebküchnerei Düll und werde mehrfach im Kreis geschickt; kein Wunder, hier grenzt der Ludwigs- an den Jakobs- an den Josephsplatz. Irgendwann treffe ich einen, der nicht bloß hier wohnt, sondern auch einen satellitengespeisten Stadtplan in der Tasche hat.

Zurück in meiner Stadt, beim Verlassen des Bahnhofsgeländes, gerate ich in einen Gegenstrom rennender Männer in farbigen Schals: direkt in meinem Weg hat sich soeben ein Fußballfanbus entleert. Dann geht es nicht mehr weiter: eine Kette von Gepanzerten versperrt den Durchgang; einer brüllt: Zurück! Durchs Bahnhofsgebäude gehen!

Ich weise auf mein Gepäck, nein, ich bin kein Fußballfan, ich möchte zur Tram da drüben, aber ich werde angebrüllt: Zurück! Ich bleibe stehen, wie noch einige andere Reisende. Die Tram verpassen und mich anschreien lassen? Als der Fanbus wegfährt, entweichen wir durch die entstandene Lücke. Lass sie laufen, höre ich es hinter mir.

Die Lebkuchen, später, schmecken ausgezeichnet.





Montag, 13. November 2017

Paukenschlag, volles Orchester, Chor: ... statu variabilis ... Das Kind sitzt auf der Stuhlkante und späht in den Orchestergraben. So viele Instrumente! Liebesgeplänkel interessiert es nicht so; bei den Tanzstücken wippt es mit. Nachher wird es ganz erledigt sein von dem Lärm und der Aufregung und dem Applaus, aber für einen bewundernden Blick in die Kuppel des Foyers wird's noch reichen.

Vorm Theater wartet dann der Tag in Winterkleidung.

Der Himmel ist glasklar, von Flugzeugen bekritzelt, und über seine Fläche schiebt sich eine Kranichkette; ihr helles Getröt mischt sich mit dem Läuten der Kirchenglocken. Eine Seite des Vogel-Vs löst sich auf, gerät in Verwirrung, die Tiere finden sich zu kleineren Formationen und lassen sich weiter ziehen von den Fernen. Wir drunten in der Stadt aber müssen schlucken, wie wenig wir Flügel haben.

 

Nachtrag: Großen Spaß macht das hier – 70er-Jahre-Carmina, nach Orffs Vorstellungen umgesetzt. (Bildqualität auf der DVD natürlich besser.)





Samstag, 11. November 2017

Die Siebenjährige schaut im Naturhistorischen Museum konzentriert die Vitrinen mit den Knochengerüsten an und die mit den ausgestopften Tieren. Dann stellt sie sich vor eine Aufsichtsfrau hin: Ich müßte mal was wissen. Sind die Tiere hier extra für das Museum getötet worden? – Die Aufsichtsfrau beschwichtigt, weiß aber auch nicht so recht, was sie sagen soll.

Er ist neun, das muß ich im Kopf behalten, als er erzählt, daß seine kleinen Brüder und er nur Halbgeschwister seien: Meine Mutter, sagt er, springt mit jedem ins Bett.

K., Lehrer an einem Kleinstadtgymnasium, bekommt einen Anruf von der Elternvertretung. Er hat seiner fünften Klasse einen Film über den Holocaust gezeigt, und nun: hätten Kinder Alpträume. Seien Sie froh, antwortet K., wirklich schlimm wäre, hätten die Kinder keine.

Und natürlich und immer wieder das hier.





Mittwoch, 8. November 2017

In den Sechzigern sei sie Chefsekretärin bei einem großen Konzern am Rhein geworden und in dieser Funktion um die ganze Welt gereist, mit Staatsmännern, Königen und Diplomaten habe sie zu tun gehabt, bevor sie zum Lebensabend in ihr Heimatdorf zurückkam, erzählt J., der die letzten Jahre neben ihr gewohnt hat. Eine alleinstehende Dame, ihr Haus ein Museum an Erinnerungen und Kunst aus aller Welt. Eine regelrechte Bibliothek, eine systematische Mineraliensammlung habe sie gehabt, Fotos von ihren Reisen, aber auch aus den vergangenen hundert Jahren der Familie, Dokumente, Gedichte; manchmal habe sie den Kindern etwas davon gezeigt, die gerne zu ihr hinübergingen, um Geschichten zu hören.

Nach ihrem Tod seien die Erben gekommen, ziemlich entfernte Familie. Eine Woche habe man einen Müllcontainer vor dem Haus gefüllt. Ein jüngerer Verwandter habe Ordner voller Briefe, getippte Korrespondenz aus fünfzig Jahren, wieder herausgeholt – um sie zu verbrennen, wer weiß, was da noch drin ist. Es sei viel geflucht worden über das Gerümpel.

Wo die Möbel für die letzten Wochen im Heim hingekommen seien, habe einer wissen wollen, die seien teuer gewesen; derweil wurden draußen Bauernmobiliar und Biedermeier zertrümmert. Tja, sagt J., und das enthält alles: Traurigkeit um dieses besondere Leben und seine Spuren, und wie es ist mit Säuen und Perlen. Kann man nichts machen. Keine, wirklich keine bleibende Statt.





Mittwoch, 1. November 2017

Gelernt, daß es keine Helden gibt. Aber jedes, je-des Wortspiel, vom Luthscher bis zur Lutheratur.

Ich wünsche mir Kirche als Bastion gegen die Berechenbarkeit von Leben nach Nutzen und Wert. Nicht zeitgemäß. Insel der Unvernunft. Sand im Getriebe.

Immer so gut wie die Menschen, aus denen sie besteht.

Ein halbes Jahrtausend: unter Kirchen ein junger Hüpfer. Ich habe Grund, ihr dankbar zu sein.





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