Der Himmel ist hinter den bunten Fassaden eine weitere, in Postkartenblau. Sogar der neue Bezahlparkplatz mitten im Zentrum sieht frisch gewischt aus. Der Architekt zeigt mir seine Lieblingsbaustelle; die wird ihm lange erhalten bleiben.
Typisch Kurstädtchen: wenn Geld da ist, wird ordentlich gemacht, kommen zwei Stockwerke obendrauf, da hilft kein Denkmalschutz. Im Kurviertel sind die verbliebenen Altbauten von Pappfassaden erdrückt. Der Architekt schweigt.
In meinem alten Viertel ist die Zeit langsamer vorangeschritten. Immer noch Armeleutegegend: unbeholfene Sanierungen, Leerstand, hier und da Abbruchreifes (ja, der Denkmalschutz). So viel ungenutztes Potential, sagt der Architekt. Ich denke es mir gar nicht übel, hier zu wohnen; aber leben könnte ich hier nicht.
Die Erinnerungen umschwirren mich, aufdringlich, wie ein Schwarm Wespen. Geschäfte, die es nicht geschafft haben; gefällte Bäume, betonierte Wildnisse, wer alles gegangen ist und wer alles schon nicht mehr lebt.
Keine Nacht in der Stadt, die mich aufbringen kann wie keine zweite. Ich verlasse sie ratlos, ein wenig traurig, sehr erleichtert.
Derweil ist der Herbst wie nach meiner Stimmung gebildet: als sei ich schuld dran, daß das Laub sich färbt, als hätte ich die Tage verkürzt, die Nächte erkältet, als triebe ich die Zugvögel zusammen und streute Obst für die Würmer. Komm zum Schluß, Jahr.
Ich habe das Vergehen gern, oder doch zumindest das Vergängliche. Erst ihr Ende macht eine Geschichte aus Geschehnissen, durch ihr Verstreichen wird die Zeit kostbar. Wenn überhaupt etwas zu verstehen ist, dann vom Ende her.
Nichts bleibt, alles wird. Herzschlag, Gezeiten: Alles zieht sich zurück, um Kräfte zu sammeln, die es später wieder zu verschwenden gilt. Die Schönheit liegt darin, wie das alles nicht geplant scheint und dennoch ineinandergreift in mühelosem Reigen.
Er hat schlechte Nachrichten bekommen. Ich weiß nicht, ob ich ihn danach fragen soll; mein Impuls wäre, ihn gelegentlich in den Arm zu nehmen, aber das geht nicht. Dafür kennen wir uns offenbar noch ein paar Jahrzehnte zu wenig; und zumindest von mir würde ich sagen: nicht der Typ dafür.
Eigentlich jedes Mal versumpfen wir in finsteren Visionen und verfallen dann irgendwann in haltlose Albernheit, dafür haben wir beide ein Talent, und vielleicht ist genau das meine Aufgabe.
Helfen kann ich nicht. Aber er weiß wohl auch noch nicht einzuschätzen, was er mir zumuten kann. Nun. Abwarten. Und Kaffee trinken mit T.; irgendwann wird sich das schon alles auflösen, hoffe ich.
Dieses fremdartige kleine Land mit dem i-Überschuß, in dem sogar Industriegebiete niedlich aussehen. Freundliche Menschen hier, Fußgängerampeln mit Gelbphasen, immergrünes Gras unter immerblauem Himmel, und an den Rändern die Berge, daß man's nicht für möglich hält.
(Meine Unterkunft teile ich mit einem gewaltigen Flachbildschirm, einem Kronleuchter und einem Laubhaufen, der vorgibt, er sei ein Teppich, und zu dessen Zimmer ich die Tür geschlossen halte. Ich würde den Flachbildschirm gern verhängen, aber ich brauche die Bettdecke selbst. Nun tue ich so, als schaue er nicht, während ich in einem Bett, gletscherweiß und groß wie ein halber Kanton, herumrutsche auf der Suche nach einem Schlafplatz, über dem der Kronleuchter nicht hängt. Aber das Essen ist vorzüglich, Nervennahrung erster Güte.)
Eine Zugezogene sagt: die Natur hier ist toll. Bloß kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, alles sei, bis hinauf zu den Schneegipfeln, geplant und angelegt und werde regelmäßig geputzt und gewartet. Das heißt wohl, daß ich mir das Land dringend näher anschauen muß.
Es fallen die Feste: Vier Generationen füllen eine enge Gaststube, und die Vorstellung der Familie als Baum wird überdeutlich. Die langlebigen Zweige, die fruchtbaren, die abgestorbenen ... 95 wird die Matriarchin, frisch und präsent, nur das Augenlicht hat nachgelassen. Sie geht herum und begrüßt alle; manche erkennt sie erst an der Stimme. Sie ist, was sie immer war: mittendrin. Ihre Sachlichkeit und ihre Backkünste sind Legende. Erfüllt ist das Wort, das man lächelnd denkt, wenn man ihr begegnet. Und wünscht: daß es so bleibt, daß das Zerbrechliche des Lebens ausnahmsweise nicht zerbricht. Daß das Ende freundlich naht und nicht zaudert.
Auch der Schriftsteller feiert Geburtstag. Im Wohnzimmer seines Elternhauses stelle ich fest, daß ich hier schon einmal gewesen sein muß. Keiner fragt mich, woher ich ihn kenne; ich könnte es ohnehin nicht sagen. Ob er's noch weiß? Ich sehe ihn zwischen seinen Gästen, mir fast sämtlich unbekannt; mit jedem von ihnen verbinden ihn Geschichten. Das sind starke Fäden. Ein ganzes Haus, ein ganzer Garten voller guter Geschichten, was sollte ein Schriftsteller mehr wollen?
Das Sonnenjahr geht in sein letztes Viertel. Ich habe keine Blumen verschenkt.
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