Na, Leichtmatrosin, begrüßt mich T. Ich schenke ihm Topflappen, meine ersten seit der dritten Klasse, in Notfallrot und Kriegsschiffgrau.

Er sei, erzählt er, im Garten des Heims zwei alten Leutchen begegnet; der Mann habe sich an den Rosen zu schaffen gemacht, sie, am Beetrand und nicht mehr gar so mobil, habe wohlgemut erzählt, daß sie sich schnell noch um die Blumen kümmern müßten, dann packen, und morgen ganz früh, da führen sie nach Schlesien. Tags drauf das gleiche Bild, und sie erzählte, morgen gehe es nach Bad Lippspringe; jeden Tag ein anderes Ziel.

Vielleicht ein guter Punkt, um da zu bleiben, denke ich. Immer was zu tun, und immer etwas, um sich drauf zu freuen. Aber was weiß ich; ich habe ja jetzt schon keine Lust, mich für den nächsten Segeltörn anzumelden, und der ist in zwei Jahren. Aufs Reisen, anders als aufs Wandern, freue ich mich frühestens dann, wenn ich unterwegs bin.

Kennst du das?, frage ich T. Mir scheint das das Gegenstück zu sein zu den Leuten, die, egal wo sie sind, von Erlebnissen anderswo reden. Hic Rhodos, hic salta, fuhr man dem antiken Athleten über den Mund, als der in Athen prahlte, wie toll er auf Rhodos gesprungen sei. Spring halt hier, wenn du's so gut kannst.

Das, sagt T, hieß bei uns im Dorf: Dehemm honn alle Buuwe Kligger!

 

  Wie hießen im Dorf eigentlich Topflappen – Dibbelumbe?





Und diese Kapellen und Kapellchen an den Wegrändern und Weingärten. In vielen standen mal alte, wertvolle Heiligenbilder, die sind lange weggekommen und durch spätere Massenware ersetzt; aber geehrt werden sie, alle. Man sieht es an Blumen und Kerzen, an den gefegten Vorplätzen, den sorgsam nachgepinselten Blutrinnsalen auf dem Torso des Heilands. Inzwischen sind sie oft beschildert, weil nicht mehr jeder Wanderer weiß, wozu das gut sein soll und sonst vielleicht sein Picknick darauf abhält.

Zweidreimal bleibe ich stehen, wo nichts weiter als fünf hellere Steine in Kreuzform in die Mauer gesetzt sind, mit einem Sims davor für Blumenschmuck vielleicht; andere Male stehe ich verwundert vor proppenvollen Altären mit LED-Kerzen und Votivgaben von ungelenk bis industriegefertigt: Maria hat geholfen; Maria hilft immer; Danke, Maria.

Dazwischen entdecke ich kitschige Engel-auf-Herz-Ensembles aus dem Baumarkt-Dekoregal, manche mit salbungsvollen Schmuckaufschriften: "Ein Engel ist jemand, der dir in der dunklen Nacht einen Stern schenkt", "Liebe ist das einzige, was mehr wird, wenn man es weitergibt".

"Jajaja. Ein Loch ist das einzige, was größer wird, wenn man etwas davon wegnimmt", sagt M, der meine Abneigung gegen derlei Sprüche teilt. "Pfannenfertig" nannte Blogkollegin SoSo derlei Weisheiten mal.

Da ist eine Sehnsucht, so ein deutlich verspürtes Loch in der Seele, und das wird neuerdings mit Gipsgußgeist made in Fernost gestopft? Ich weiß nicht, kann das gehen? Ich weiß nicht mal, ob ich, der Frömmigkeit fremd ist, mir ein Urteil erlauben darf; ich kann ja nur darüber staunen.

M hinwiederum wundert sich über mich. Ich bleibe vor jedem Wegkreuz stehen und versuche seine Aufschrift zu entziffern, ich spähe in jedes Heiligenhäuschen und krame in meinem Hirn nach der zugehörigen Legende. Mich rührt der Ausdruck tiefer Gläubigkeit, auch wenn ich mich ein bißchen schlecht fühle beim Zuschauen.

Letztlich ist es wohl die Macht der Geschichten, die mich fasziniert. Menschennöte, über Jahrhunderte in Handlungen und Bildern geronnen; der Trost durchs Immer-wieder-Gleiche. Die universelle Sehnsucht der Menschen nach etwas über ihnen, und wie sie über die Zeiten Ausdruck fand und findet. Daß da den Leuten etwas heilig ist.





Ich schätze auch beim Häkeln die Überschaubarkeit, die Abwechslung, den schnellen Abschluß.

Immer ist etwas übrig. Zu etwas Ganzem reicht es nicht, also noch etwas dazu, und dann machen zwei Teile ein Ganzes, und etwas ist übrig: ein Teufelskreis.

Meine Art Resteverwertung gestattet mir, etwa zarte Blütenblatt- und Speiseeisfarben mit Stadtreinigungsorange zu kombinieren; das macht mir Freude. Abbildung echter Welt in Wolle.

 

  Und was machst du mit dem ganzen Zeug?
  Hm. Weihnachten?





Fassungslos macht mich der Haß, dessen sich die Kommentatoren nicht schämen zu müssen glauben: Wir lassen Menschen ertrinken? Richtig so! Die wollen hier ja nichts als ein besseres Leben! – Wir schicken sie in die Sklaverei? Haben sie verdient, die Rechtsbrecher!

So vom Sofa aus ist leicht entscheiden über Leben und Tod. Aber um Unterschiede zu machen zwischen Mensch und Mensch, muß man schon alles ausgeknipst haben, Werte, Denken, Mitgefühl. Ich hoffe aus ganzer Seele, daß ich das niemals lerne; und daß ich nie auf einen angewiesen bin, der das kann.

Ach.





Das Autohaus, in das mein Vater vor über vierzig Jahren seinen Wagen zur Inspektion brachte, gibt es noch, mitten im Ort; das verrät ein Wegweiser an der Hauptstraße. Ein Name ist vom Firmenschild verschwunden, dafür eine Marke hinzugekommen. Ich wüßte den Weg noch auswendig. Umweg?, fragt M. Nein, will ich nicht. Ich will nicht, daß es anders aussieht, anders riecht, als ich es in Erinnerung habe.

 

Aschenbach, denke ich. Mindestens sechzig, gekleidet wie zwanzig, Haupt- und Barthaar gefärbt. Braune Lederjacke mit Aufnähern, die Jeans hat dicht an dicht Querschlitze in den Hosenbeinen, von der Leiste bis zu den Turnschuhen. Mir zieht sich alles zusammen beim Anblick des mit künstlich gealterter Kleidung künstlich verjüngten Menschen. Ich möchte mal Schwarz, vernünftiges Schuhwerk, zwei Brillen und, für gut, kunstvolle Dreiecksschals und roten Ohrring; aber hat man wirklich die Wahl?

 

Die Kleine ist stolz, daß sie ihre Sommer nicht mehr an einer Hand abzählen kann. So alt schon! Und in zwölf Jahren, sagt sie, als wär's ein Klacks, bin ich achtzehn und ziehe aus.