Die schlimmste und die schönste Geschichte des Tages aber erzählt K, und es ist gut, daß der große Fluß dabei ist, denn ohne den wäre manches nicht auszuhalten.
Die schlimmste geht so: ein Video im Netz, gefilmt aus einem Auto am Straßenrand, zeigt, wie ein Viehtransporter ein Stück vom Schlachthof entfernt entladen wird; die Rinder müssen über eine Wiese getrieben werden und stolpern aus dem LKW, orientierungslos, manche verwundet, gar mit gebrochenen Beinen, geblendet vom ersten Mal Sonne. Zum ersten Mal Erde unter den Klauen, der erste Himmel und der erste Wind ihres Daseins: sie erleben gerade das Schönste, was sie je erleben durften, sie rufen, sie wittern, aber zum Grasrupfen läßt man ihnen keine Zeit, denn am anderen Ende der Wiese steht ja das Tor schon offen –
Die schönste Geschichte ist die von dem Kind, das mit anderthalb zum ersten Mal eine Amsel hört, die Erwachsenen zum Stehenbleiben zwingt und lauscht und lauscht, reglos vor Glück, und das dann für den Rest des Tages versucht, wie eine Amsel zu singen.
Ich vergesse beide Geschichten nicht und hoffe, wider alle Vernunft, daß die eine die andere irgendwie auflöst, daß die eine das Gegengift ist, daß sie das Kranke der anderen kurieren kann.
Es gibt eine Petition. Vermutlich, um Herrn Scheuers Vorstellung vom "Menschenverstand" zu korrigieren.
Es ist das Internet; Kommentare besser nicht lesen.
Nachtrag: Auch ohne großen Wind in den Medien finden sich offenbar genügend Menschen, denen das Tempolimit am Herzen liegt – die fünfzigtausend Mitzeichner, die nötig sind, um die Sache vor den Petitionsausschuß zu bringen, kommen wohl zusammen. Noch knapp 2000 Stimmen in knapp drei Tagen.
Natürlich ist die Diskussion emotional. Die Argumente sind allerdings auf der Pro-Tempolimit-Seite besser; die Gegner pochen auf "Freiheit", "stimmt doch ganich" und "soll ich etwa im Schneckentempo von A nach B", aber das ist global betrachtet nun ernsthaft wurscht. Ich bin gespannt, ob die Politik wieder auf Durchzug schaltet und nur die Seite der Industrie hören will, wie beim Urheberrecht.
Es wäre an der Zeit für ein Tempolimit. Und dann: Autos überflüssig machen, nicht das bekannte Übel durch ein elektrisch betriebenes ersetzen.
Über den Marktplatz spaziert ein Elternpaar mit Hund. Eine alte Dame bleibt stehen, begrüßt den Hund, begrüßt das Paar: Ich habe gehört, Sie hätten Junge gekriegt! Das ist ja toll! Ein Mädchen, korrigiert die junge Mutter, ja, gerade vor zwei Wochen. Und wo sind sie denn? Bestimmt zuhause? Nein, wir haben sie dabei, sagt der Vater und öffnet ein wenig die Jacke über dem Tragetuch. Ach, so nimmt man die heute? Wie die Babys? Das ist unser Baby! Aaaaach! Das hatte ich falsch verstanden! Die alte Dame beugt sich hinunter zu dem Hund. Ich dachte, sie hätte Junge gekriegt! Oh, neinnein, das ist ein Rüde ... (T und ich bemühen uns, keinen Kaffee zu verschütten.)
Auf dem Markt gibt es Primeln im Topf für einen Euro; bei den Fahrradständern neben dem Rathaus blüht ein Löwenzahn, gelb und ganz umsonst.
Endlich wieder Schatten werfen!
Unter Schirmen, mit Schildern und Transparenten ziehen die Schüler durch die Stadt, hinter einem Polizeiwagen mit Blaulicht her. Die Fahnen im hinteren Teil stammen von Parteien und Organisationen; schön bunt. Weil ihr uns die Zukunft klaut!, und recht haben sie. Lang ist der Zug nicht, aber die gesamte Straßenbreite nimmt er ein. Hinter dem letzten Transparent fährt ein weiterer Einsatzwagen; die Kolonne von Autos, Transportern, LKW, die hier zum Schrittempo gezwungen wird, ist ein Vielfaches so lang wie die gesamte Demo, ein Ende nicht abzusehen, und das scheint mir ein guter Witz.
Nun, bitte, weiter so. Pestet eure Eltern, wenn das nächste SUV zur Diskussion steht oder der Flug auf die Malediven (für euch wurde schließlich die Quengelware erfunden). Geht zu Fuß, nehmt das Rad. Erforscht die Zusammenhänge, eine andere Chance habt ihr nicht, und wählt, sowie ihr nur könnt.
Warum geben Sie denn die schöne Kommode weg, fragt das junge Paar, das mein altes Möbelstück mitnimmt (umsonst an Selbstabholer). Tischlerarbeit, sicher hundert Jahre alt, der Name des Auftraggebers steht in der obersten Schublade. Ich brauche Platz, sage ich. Verkaufen? Hätte ich nicht gekonnt. Verschenken, das geht.
Weg sind ein billiger Sessel, ein teureres Sofa, weg ist die Liege meiner ersten Liebesnächte (wie schmal!, und der Liebste war ein Riese). Auch die alten Kleider habe ich fortgetan, oh, und den alten Schlafsack, der mir so lang auf dem Gewissen lag. Behalten habe ich: das Nachthemd des Großvaters, den ich nie kannte; die Wäsche, die mir der Liebste heimlich mit Mustern bedruckt hatte. Eines seiner Hemden. Beinah alle Bücher, alle Briefe. Die zwei häßlichsten Stofftiere der Welt.
Manchmal war's so schwer, daß ich M anrufen mußte und ihm erzählen, was da durch meine Hände ging. Manches war erstaunlich leicht, und schön, wie Platz wurde.
Wir sind, sagt M, Archivare unser selbst. Das Schlimme ist, füge ich hinzu, sentimentale Archivare.
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