Montag, 7. Mai 2018

Auf den letzten hundert Metern verengt sich die Bahn und zwingt die Finalisten in eine Reihe. So können sie einzeln begrüßt, beklatscht und fotografiert werden. Ich klatsche und winke, als M nach genau der geschätzten Zeit vorüberspurtet; er hebt knapp die Hand. Wenig später sammle ich ihn ein. Er ist vollkommen erschöpft. Ziel erreicht.

 

M läuft zum ersten Mal in meiner Stadt. So kommt es, daß ich zum ersten Mal am Straßenrand stehe und jubele. Die plastiklastig-professionelle Organisation des Ganzen wundert mich nicht, eher schon die gute Stimmung bei allen, Läufern, Helfern, Zuschauern. Ich lasse mich anstecken und freue mich, als ich sehe, wie M auf der Strecke sich freut, als er mich am Straßenrand sieht.

Einige im Publikum schwenken Schilder: Genieß es, du hast dafür bezahlt!, oder: Umkehren wär jetzt auch blöd!, oder einfach: Du schaffst es!, und damit sind irgendwie alle Läufer gemeint. Konkurrenz gibt es unter vielleicht zwanzig, dreißig Sportlern, der Rest macht das, um's zu machen.

Auch die Läufer tragen ihre Gesinnung auf den Hemden. Farben, Schriftzüge, Firmenlogos, Teamnamen; angeknüpfte Ballons, verzierte Mützen, ganze Kostüme. Einer ist ohne Schuhe unterwegs, die Ballen mit Tape umwickelt.

 

In einer Tiefgarage ziehen die Läufer sich um, schmieren sich ein, justieren Technik und dehnen sich. Dann sucht jeder sein Startfeld und wartet in der Morgenkühle. Die Straße, sonst vierspurig für Autos, füllt sich mit bunten Menschen, die auf der Stelle hüpfen, Gymnastik und Selfies machen. M, frage ich, mußt du dich nicht auch, ich weiß nicht, aufwärmen? – Nö, das integriere ich in den Lauf.

Irgendwann Musik über Lautsprecher (Highway to Hell), Ansagen, Moderation, ein Countdown. Nichts passiert, aber jetzt sind alle still und schauen in eine Richtung. Dann macht das gesamte Feld einen Schritt nach vorn, einen nur, und die Spannung springt über die Absperrungen und erfaßt auch das Publikum. Letzte Anweisungen und Grüße werden gerufen, Kameras gezückt; dann bewegen sich die Läufer. Schrittempo. M lächelt noch einmal herüber. Schneller geht es, einige hinter den Absperrungen gehen mit, winkend, wie einem abfahrenden Zug hinterher.

Ich verfolge, wie M Blick und Kräfte sammelt und nach vorn richtet, auf das 42 Kilometer entfernte Ziel. Er löst sich von der Straße, von der Stadt um ihn herum, löst sich von Tageszeit und Temperatur, löst sich von allem; er fällt in Trab, ich sehe, wie seine Schulterblätter sich gleichmäßig im Laufrhythmus bewegen, und fort ist er, ganz für sich zwischen Tausenden von anderen, wie davongeflogen.





Donnerstag, 3. Mai 2018

Die früheste? Vom Arm seines Vaters aus auf eine riesige, graue Wasserfläche schauen, ein Nordseehafen. Zwei muß er da gewesen sein, wenn die Datierung nicht trügt, sagt T.

Bei mir ist es eine rosa Fliesenwand mit draufgerubbelten Rosen im Querformat, etwas schadhaft schon. Könnte der Blick von der Waschmaschine in der allerersten Wohnung sein; die Waschmaschine war damals auch Wickelkommode.

Man weiß es natürlich nicht. Es sind wahrscheinlicher Bilder als Geschichten; wie man gegen das Röhrenradio gerannt ist, hat man ja oft genug erzählt bekommen, daß man sich selber dran zu erinnern glaubt. Aber dann ist es immer noch möglich, daß es Traumbilder sind oder solche, die man sich später vorgestellt hat.

Ich bestaune die Detailtiefe der Reisebücher von P.L. Fermor. Dabei hatte er die meisten seiner Aufzeichnungen verloren, schon Jahre bevor er die Bücher schrieb; aber vielleicht ist das nötig für einen guten Bericht, daß man guten Gewissens einen Teil erfinden kann?

Ich hätte ja gern ein Gedächtnis.





Samstag, 28. April 2018

Es ist eine Menge Wissen, Technik und viel, viel Erfahrung. Ein bißchen Mut gehört auch dazu. Wenn nur die Arbeitsbedingungen besser wären und man mehr Zeit hätte für die Behandlungen ... Doch, es macht schon Spaß, sagen die jungen Physiotherapeutinnen. Steh auf und wandle! Später erzählen sie, was sie verdienen. Ich hätte gedacht, Wunder bringen mehr ein.

Vorm Toilettenwagen auf der Festwiese bekomme ich das letzte Ende eines Streits mit. Der Toilettenwagenmann hat sich vor einer Dame aufgebaut und sagt sehr deutlich, mit hochgezogenen Brauen: Sie haben mir gar nichts zu sagen. Ich mache hier ehrliche Arbeit, und Sie, Sie kommen bloß zum Pinkeln!

Hamse 'n bißchen Kleingeld für'n Obdachlosen? – Ich schaue von meinem Buch auf und gleich wieder hinunter: der Mann sitzt im Rollstuhl. Wahrscheinlich ganz jung. Ich krame eine Münze aus der Tasche. Er zeigt auf eine Vorrichtung am Gestänge des Rollstuhls, ich kenne das Gerät aus Verkehrserhebungen, ein mechanischer Zähler. Klick! Das sind alle, die reagieren, ob positiv oder ablehnend; die, die ihn ignorieren, zählt er nicht. 247, steht da. Der Tausender ist heute schon einmal rum, sagt er. Zwölfhundertfünfzig Interaktionen in neun Stunden. Klingt anstrengend, denke ich, und er sagt: kein Wunder, daß ich mir nicht alle Gesichter merken kann! Dann rollt er weiter.





Freitag, 20. April 2018

Erinnerst du dich, fragt S beim Kaffee, an unsere alte Musiklehrerin? Natürlich erinnere ich mich. Frau F wollte mal Karriere als Konzertpianistin machen; aber ein Unfall, eine Verletzung der Hände – so wurde sie Lehrerin. Sie trug die Haare in einem roten Nest und hatte ein schönes, markantes Profil. Die Schüler lachten über sie. Eigentlich kam sie wohl nur in die Schule, um den Flügel zu benutzen; in ihren Freistunden füllte sie den gesamten Bau mit Musik.

Die ist jetzt auch im Heim, sagt S. Sie habe sie an das Klavier im Aufenthaltsraum gesetzt, um ihr eine Freude zu machen, aber Frau F habe vergessen, wie man spielt. Alles habe sie vergessen, vielleicht sogar die Musik ganz und gar.

So viele Demente, fährt S fort und nimmt sich Milch. Die Leute bleiben immer länger körperlich gesund, jaha, noch stimmt das; aber die Zähen, die, die Verzichten und Durchkommen gelernt haben, die sterben jetzt allmählich weg. Die Späteren, da ist S sicher, die können nichts mehr ab. Lauter Verweichlichte, die beim ersten Hindernis die Segel streichen. Bald hat sich das mit dem Immer-Älter-Werden, prophezeit S.

(T nennt sie "die Apokalyptische", wenn sie nicht da ist.)





Donnerstag, 19. April 2018

Es war einmal ein Zivi, der pflegte eine alte Frau, die war taub und blind und in jedem wachen Moment überzeugt davon, sie sei in der Hölle. Egal ob er sie fütterte, streichelte, zudeckte, sie verfluchte ihn, er sei ein Teufel und solle sie nicht länger quälen ... Das ist die schlimmste Geschichte, die ich kenne; aber selbst die kann T nicht aufheitern im Moment.

Als er sich am Ende vom Kaffee umschaut, meint er, er könne wahrhaftig an diesem Platz, Sonne, Blick übers Wasser, Miniaturblätter an den Platanen, nichts auszusetzen finden; das ist was, immerhin.

    Und du, was machst du gerade so?
    Ach, was schön Warmes für den Winter.





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