Die sind aber früh dran, sage ich zu M, als wir bergauf vor der Hitze Richtung Wald stapfen; aber Sonne hatten sie schon fast genug. Hoch sitzen sie im verschlissenen Dornengezweig, das Neueste, Glänzendste in der Hecke, und ziehen den Blick auf sich.
Trotz brennender Sonne bleiben wir stehen. Einen Schritt in die grasige Böschung, strecken, denn die oberen sind am besten, und dann vorsichtig die pflücken, die sich schon pflücken lassen und noch nicht zerplatzen. Zur Hälfte sind sie sonnenwarm. Jede Beere eine Überraschung auf der Zunge: süß, sauer, nach Leder, nach früher, nach mehr. Mit dunkelroten Lippen und zerkratzten Armen raken wir immer wagemutiger; es ist schwer, aufzuhören. Besonders gelungene Exemplare tauschen wir aus.
Auf dem Rückweg ist es dann zu heiß zum Stehenbleiben. Die Ebene liegt flimmernd vor uns. Von hier oben sehen noch die Industrieanlagen schön aus; nur bei Logistikzentren ist wohl wirklich nichts zu machen.
Die Schatten haben jeden Kern von Kühle verloren; dafür tragen Brombeeren und Mirabellen vom Wegrand einen Kern von Säure, der ihre verfrühte Süße herrlich macht.
Ein Pferd scharrt und scharrt auf der trockenen Weide, bald sieht es aus, als steige Rauch von der Stelle auf, in den das Pferd den Kopf senkt; es scharrt weiter, die Wolke wird größer, und dann kippt das ganze große Tier zur Seite und wälzt sich, nach dem Blau da oben und der Sonne auskeilend, genüßlich im Staub.
In der Stadt haben die Platanen ihre Rinde abgeworfen; die liegt jetzt von Passantensohlen fein zermahlen auf den Gehsteigen. Ein kleiner Junge kommt mir an der Hand seines Großvaters entgegen, dem er voller Selbstvertrauen erklärt: ... und ab jetzt mache ich immer alles richtig!
Die Sonne drückt mich mit heißer Handfläche von Straßen und Plätzen in den nächsten Schatten. Nach Sonnenuntergang aber würde ich den Sommer am liebsten auf der bloßen Haut tragen; die Nächte sind ganz genau so warm wie ich.
Dieser Sommer rinnt mir nur so durch die Finger, Bilder und Erinnerungen verdunsten schneller, als ich sie notieren kann –
L ist das einzige mir bekannte Kind, das gern in Museen geht. Sie hält die Eintrittskarte mit so leuchtendem Blick zum Abreißen hin, daß die Frau am Eingang ihr länger hinterherschaut.
L liebt die Geschichten zu den Exponaten, nur die grausamen nicht. Für die erfindet sie Happy-Ends; Zehnjährige haben ja noch für alles eine Lösung. Als sie sich vor einem Bild auf den Boden setzt und Fragen stellt – ich setze mich der Einfachheit halber daneben –, kommt die Aufsicht im Minutentakt vorbei; jedes Mal eine andere.
Stunden später sind wir durch. Sie fragt: Schon?
So gern hätte sie die Sonderausstellung von den Plakaten gesehen, aber die, muß ihr der Mann an der Kasse sagen, ist schon geschlossen. Aberaber, fügt er hinzu, er hat hier eine Postkarte, die schenkt er ihr, und wenn sie in ein paar Wochen noch mal kommt, gibt es ganz neue Herrlichkeiten zu sehen ...
L hat die Fähigkeit, vollkommen hingerissen zu sein von Dingen, bei denen man das nicht erwartet. Ein Staun-Wunderkind.
Fassungslos macht mich der Haß, dessen sich die Kommentatoren nicht schämen zu müssen glauben: Wir lassen Menschen ertrinken? Richtig so! Die wollen hier ja nichts als ein besseres Leben! – Wir schicken sie in die Sklaverei? Haben sie verdient, die Rechtsbrecher!
So vom Sofa aus ist leicht entscheiden über Leben und Tod. Aber um Unterschiede zu machen zwischen Mensch und Mensch, muß man schon alles ausgeknipst haben, Werte, Denken, Mitgefühl. Ich hoffe aus ganzer Seele, daß ich das niemals lerne; und daß ich nie auf einen angewiesen bin, der das kann.
Ach.
"Ich bin einer, der Sonnenuntergänge guckt, bis die Sonne wirklich weg ist; da sagen die anderen schon: langweilig, Rest kennen wir, aber ich bleibe bis zum Schluß, immer bis ganz zum Schluß."
M, der liebe Mensch, hat mir ein Buch geschenkt: Hilde & Gretl. Über den Wert der Dinge, angefüllt mit nachgelassenen Wundern und sanftem Wahnsinn, ein Trost fürs Leben. Meine Kisten und Schachteln voller bröselnder Souvenirs – solche hat M auch, das weiß ich; er sagt, da müsse er dringend mal ausmisten ...
Auf den Gehsteigen krabbeln die geflügelten Ameisen, und ist das Seglergekreisch über der Stadt nicht schon etwas fadenscheinig? Die Tage werden wieder kürzer.
Ein Gang durch den Sommer, das muß, muß noch zu machen sein.
Nächste Seite