L ist das einzige mir bekannte Kind, das gern in Museen geht. Sie hält die Eintrittskarte mit so leuchtendem Blick zum Abreißen hin, daß die Frau am Eingang ihr länger hinterherschaut.
L liebt die Geschichten zu den Exponaten, nur die grausamen nicht. Für die erfindet sie Happy-Ends; Zehnjährige haben ja noch für alles eine Lösung. Als sie sich vor einem Bild auf den Boden setzt und Fragen stellt – ich setze mich der Einfachheit halber daneben –, kommt die Aufsicht im Minutentakt vorbei; jedes Mal eine andere.
Stunden später sind wir durch. Sie fragt: Schon?
So gern hätte sie die Sonderausstellung von den Plakaten gesehen, aber die, muß ihr der Mann an der Kasse sagen, ist schon geschlossen. Aberaber, fügt er hinzu, er hat hier eine Postkarte, die schenkt er ihr, und wenn sie in ein paar Wochen noch mal kommt, gibt es ganz neue Herrlichkeiten zu sehen ...
L hat die Fähigkeit, vollkommen hingerissen zu sein von Dingen, bei denen man das nicht erwartet. Ein Staun-Wunderkind.
Fassungslos macht mich der Haß, dessen sich die Kommentatoren nicht schämen zu müssen glauben: Wir lassen Menschen ertrinken? Richtig so! Die wollen hier ja nichts als ein besseres Leben! – Wir schicken sie in die Sklaverei? Haben sie verdient, die Rechtsbrecher!
So vom Sofa aus ist leicht entscheiden über Leben und Tod. Aber um Unterschiede zu machen zwischen Mensch und Mensch, muß man schon alles ausgeknipst haben, Werte, Denken, Mitgefühl. Ich hoffe aus ganzer Seele, daß ich das niemals lerne; und daß ich nie auf einen angewiesen bin, der das kann.
Ach.
"Ich bin einer, der Sonnenuntergänge guckt, bis die Sonne wirklich weg ist; da sagen die anderen schon: langweilig, Rest kennen wir, aber ich bleibe bis zum Schluß, immer bis ganz zum Schluß."
M, der liebe Mensch, hat mir ein Buch geschenkt: Hilde & Gretl. Über den Wert der Dinge, angefüllt mit nachgelassenen Wundern und sanftem Wahnsinn, ein Trost fürs Leben. Meine Kisten und Schachteln voller bröselnder Souvenirs – solche hat M auch, das weiß ich; er sagt, da müsse er dringend mal ausmisten ...
Auf den Gehsteigen krabbeln die geflügelten Ameisen, und ist das Seglergekreisch über der Stadt nicht schon etwas fadenscheinig? Die Tage werden wieder kürzer.
Ein Gang durch den Sommer, das muß, muß noch zu machen sein.
Um kurz nach sechs, beim Kaffeekochen, ist mir der Tag schon verdorben: im Innenhof wird am Wilden Wein gerissen, der dieses Jahr endlich für eine Wiese hätte durchgehen können. Ein Blick aus dem Fenster bestätigt: ein Berg glänzenden Blattwerks liegt am Boden, Strang um Strang fällt dazu. Die Mauern stehen nackt und häßlich. Nichts ist übrig von meinem Gartenersatz. Das wird ein heißer Sommer für den Hof.
Ein paar Stunden später, ich habe dem Hausmeister eine böse Mail geschrieben, ist immer noch nicht Ruhe. Es zetert und klagt ohne Pause: die Kohlmeisen, die in der Pflanze genistet haben müssen, sind auf der Suche nach, ja, was?
Ich schleppe heute einen schwarzen Fels mit mir herum. Es gibt bitter wenig Grün in der Stadt; wieso dann das Wenige ausreißen? Und dabei noch Vogelnester zerstören? Es kümmert sich sonst keiner darum, wie das Haus aussieht, aber wilder Wein, das geht offenbar nicht. Armselig ist das. Wessen Vorstellung von "schön" wurde da umgesetzt?
Daß es solche Menschen gibt! Die sich über so Vitales beschweren; aber auch solche, die dann auf Kommando Schluß machen mit dem Leben. Im Juni. Nicht mal bis September warten konnten sie.
Ich hätte nicht übel Lust, sie dafür anzuzeigen.
Wow, denke ich, als mich federnden Schrittes eine Frau überholt mit Kupferhaar und Haut wie Wasser und Milch. Ein paar Meter weiter bleibt sie plötzlich stehen und dreht sich um, knickt übertrieben in der Hüfte ein; es könnte gotisch aussehen, wäre nicht ihr Grinsen und höbe sie nicht die Hände zu zwei Victory-Zeichen. Ich schaue nicht, für welche Linse sie posiert.
Etwas weiter teilt sich der Strom der Fußgänger um zwei Weißhaarige, einen langen Mann und eine Frau in rotem Kleid, die in inniger Umarmung stehen; wären sie fünfzig Jahre jünger, könnten die Passanten nicht verständnisvoller wegschauen.
Was der Sommer bislang brachte: Warten auf Gewitter. Ein Loch in der Straße, in dem oft ein Mann steht und telefoniert. Entenmägen, in Fett gegart. Das erste Kilo Kirschen ganz für mich.
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