Beim kleinen Schuster habe ich nicht genügend Bares dabei für die schwarzen Schuhe. Macht nichts, sagt er, nehmen Sie sie mit und bringen Sie das Geld die Tage. Er weiß meinen Namen nicht und nur, daß ich irgendwo hier wohne. Er macht sich nicht einmal eine Notiz (wie auch, mit Leim an den schwarzen Händen). Als ich am nächsten Tag meine Schuld begleiche, nickt er nur; auf Wiedersehen!
Auf dem Markt sagt der Ziegenbauer auf die Frage: ist Ihr Käse wieder so gut wie der letzte? einfach: Nein. Ohne Entschuldigung, ohne Vertröstung, ohne auch nur ein bedauerndes Lächeln.
Der Kartoffelbauer hört auf. Nicht gern, aber er muß sich mal zur Ruhe setzen. Wo bekommen wir denn dann die guten Kartoffeln her? Außer Ihnen baut niemand hier die alten Sorten an. Er schiebt die Mütze in den Nacken und kratzt sich am Kopf. Den jungen Mann, der das alles übernimmt, den versuche er auf Linie zu bringen. Aber wer weiß schon, was der junge Mann draus macht?
Besuch bei H., der Witwe, mit einem Korb Lebensmittel. Auf C.s Beerdigung war sie Mittelpunkt, gefaßt, geradezu strahlend; wie sie das immer macht. Ich kenne sie besser. Man möchte ihr eine Decke bringen und ihr sagen, daß alles gut wird, auch wenn das nicht wahr ist.
Wo anfangen?
Der Flüchtlingsjunge, der nichts weiter hatte als seine Hände, ein gewinnendes Wesen und einen sehr, sehr hellen Kopf. Und der dann das begehrteste Mädchen der ganzen Gegend bekam, aus hochangesehener Familie; ein ganz unwahrscheinliches Traumpaar. Nun hat der Tod sie geschieden.
Er, dessen absolute Integrität seltsam aufschien an einer Stelle, wo Integrität kaum je zu finden ist. Der darum seine Arbeit irgendwann nicht mehr lieben konnte.
Der nicht gläubig war, der aber für die Werte und Worte und Lieder, die so weit in die Geschichte zurückwurzeln, einstand.
Der anstieß, sorgte, plante, immer an das Beste im Menschen glaubend. Und dessen letzte Frage war: ich habe doch alles gemacht?
Daß die Welt, ach, dunkler geworden ist ohne ihn.
Wenn einer von den Lieben geht, dann sind wir plötzlich ganz nah am Abgrund. Ein Schritt, mehr wär's nicht. Man muß sich gut festhalten, daß es einen nicht mitzieht da hin, wohin sowieso alles geht.
(Ich stehe an dieser Kreuzung von mehreren mehrspurigen Straßen, eine brüllende Weite aus Asphalt, von in Intervallen einschießendem Verkehr geflutet. Jetzt erst sehe ich, daß dieser Ort das Wort "Platz" im Namen trägt. Vielleicht war das wirklich mal ein Platz, auf dem Bäume und Bänke standen und Spaziergänger zum Gruß den Hut lüfteten.)
Wenn ich jetzt an C. denke, gehen die Gedanken ins Leere. Er wohnt nicht mehr, er macht nicht mehr, er denkt und sagt nicht mehr. Es bleiben die Geschichten; und die Vorstellungen von Geschichten.
Im Spiegel kann ich nichts Auffälliges entdecken, aber die Entgegenkommenden in der Stadt und die Leute in den Läden schauen mich scheu an. Zweidreimal wünscht man mir eine gute Zeit, mit Nachdruck. Irgendwas scheine ich aus der Klinik mitgenommen zu haben, das mir eigentlich nicht gehört.
T. schreibt: Bier oder Kaffee, klar. K. fragt, ob wir mal wieder was machen sollten. M. sendet mir Geschichten. H., so zupackend, weiß, wenn man nicht zupacken kann, nicht, wohin mit seinen Händen.
Wird schon gehen, alles.
Herr, lehre doch mich, daß ein Ende mit mir haben muß, daß mein Leben ein Ziel hat und ich davon muß.
Ich bin miserabel in Abschieden. Jetzt, jetzt steht einer bevor, vor dem habe ich Angst, und das bedeutet noch am allerwenigsten.
Ach.
Heute finde ich C. wach vor, aber es hilft nichts. Ich mag meine Stimme nicht erheben (der Mitpatient); C. hört schwer. Er liegt und schaut und denkt nach, die Worte wollen sich nicht mehr fügen. Wir können uns nicht verständigen, bringt er schließlich hervor; und: doch, das macht etwas.
Als ich gute Nacht sage, antwortet C.: In alle Ewigkeit.
Wie er versucht mich zu trösten und meine Finger um seinen alten Strickteddy schließt. Meine Hand, die neben seiner dick und rot und gesund aussieht.
Am Abend sagt C. plötzlich klar und deutlich: Brave Mädchen dürfen jetzt springen; das ist der Familienausdruck für: die Kinder dürfen vom Eßtisch aufstehen. Wir Besucherinnen schauen uns an und müssen lachen. Dann packen wir zusammen und brechen auf.
Ich finde C. auf der Bettkante vor, wo er sich abmüht. Mit Hilfe steht er auf; im Rollstuhl fahre ich ihn auf dem Gang spazieren. Der Gang endet vor einem großen Fenster, da halten wir an. C. stemmt sich hoch und steht dann, auf meine Schulter gestützt, vor der Scheibe.
Die Sonne erreicht noch nicht den Innenhof. C. schaut und schaut in die kahlen Baumkronen, auf das Dach unterm klaren Himmel, und ich habe das Gefühl: gerade begreift er, daß er weiter nicht mehr gehen wird. Er hebt eine müde Hand, winkt dem November; dann sagt er: hinlegen. Im Bett zieht er die Decke bis zur Nase und schläft, bleich, voller Unruhe.
Zwei Sätze: Ich will hier raus. (Nein.) Und: Ich habe doch alles gemacht? (Ja. Alles, was gemacht werden mußte. Und so viel mehr als das.)
Gute Wege, C., Lieber. Und danke.
Bei Doctor Who gibt es diese wiederkehrende Szene, in der der Doctor die Menschheit betrachtet: Oh, ihr kleinen, schwachen Dinger, mit so viel Lebenswillen! So viele Ideen, so viel Schönes, so viel Liebe! – Und dann rettet er die Welt.
Ein Nachmittag mit M. Nach Stunden: Sag, müßten wir nicht über den Wahlsieg von Trump reden? – Nein. Das hat er nicht verdient. Stattdessen reden wir darüber, ob Jura als Fach in die Schule gehört. M. meint, ja; ich bin vehement dagegen.
Vier Fünftel der Insekten hier sind weg, nicht ganze Arten, sondern einfach weniger Masse; über so was wache ich auf in der Nacht. Und die Sanierungen in meiner Straße: kein Platz für Nester mehr, keine Singwarten für die Viertelamseln. Der Mensch ist das einzige Tier, das anderen den Lebensraum raubt, selbst wenn es darum weiß und anders könnte.
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