Jetzt will ich seit zwei Tagen was aufschreiben und komme nicht dazu.
Alle Welt redet von Steckdose statt Fossil, vom Plus durch neue Technologie. Warum hört man so wenig vom Abwarten, vom Teilen, vom Verzichten?
K. lacht am Ende des arbeitsreichen Tages bei einem Glas Wein über eine absurde kleine Geschichte, und ich staune, wie schön sie ist: wie ihr Gesicht aufleuchtet, dem Lachen hingegeben, und wie das Kümmernisse und Ärger ganz und gar überstrahlt.
R.s dementer Vater lebt in einer Einrichtung. Ich kannte ihn vorher nur wenig, er schien mir ein stiller, freundlicher Mann. R. sagt, langsam vergißt er alles, Orte, Personen, Wörter, wie man Dinge macht, aber er hat die Fähigkeit bewahrt, sich zu freuen. Wenn R. mit ihm durch die Stadt fährt, schaue sein Vater aus dem Fenster: hier war ich ja noch nie (er hat hier gewohnt), was für eine wunderschöne Gegend! Und ganz oft: Danke. Kein Wunder, daß ihn im Heim alle lieben. (Diese Schwestern hier, alle so nett!)
C. ist angezählt. Die Zeit, die ihm bleibt, nutzt er fieberhaft, und ach! was ist der Rest der Welt so langsam. (Ich, zum Beispiel.)
The Universal Receipt Book von Colin Mackenzie, London 1829. Antiquariat Bulang & Zorn.
Im Fenster hängt ein Schild, groß: 20 % auf alles!, klein darunter: auch auf Tierbücher – lachend betrete ich das Geschäft, von dem ich schon befürchtete, es wäre nicht mehr; dabei ist es nur kleiner geworden. Aber es gibt sie noch, die wissenschaftlichen Bücher aller Fachrichtungen aus mehreren Jahrhunderten, gewohnt sorgfältig kuratiert.
Nach einer Viertelstunde unter Wörterbüchern (als hätte ich unendlich Regalplatz!) ein kurzer Schwatz mit dem Chef: ja, der Markt wird enger, weil eben vieles über das Internet läuft, und dann all die Digitalisate, da braucht keiner mehr das Buch. Und nein, Fraktur geht eigentlich gar nicht mehr. Das kann man nicht lesen; die Mühe macht sich kaum mehr jemand. Aber doch, ja, sie halten sich.
Derweil sitze ich auf dem Boden und fische Schätze aus den unteren Regalen. Jura, Theologie, Forstwirtschaft, Alte Sprachen, ganze Werkausgaben, halbe Bibliotheken – von Hölzchen auf Stöckchen komme ich auf unterhaltsamen Umwegen, und immer noch etwas Erstaunliches – ach, ich habe viel zu wenig Zeit.
Schließlich fällt mir eine ganz gute Zusammenfassung des Ladens in die Hände, ein englisches Buch aus dem Jahr 1829, in dem ein gewisser Colin Mackenzie alles zusammengetragen hat, was in seiner Welt nützlich zu wissen war: Five Thousand Receipts / in all the / Useful And Domestic Arts, / constituting / A Complete And Universal / Practical Library, / and / Operative Cyclopædia. Darin finden sich Rezepte für Holzbearbeitung, Gartenbau, Suppen; wie man Tinte macht, Kerzen und Wein, wie man Ohrwürmer aus den Ohren lockt (mit Äpfeln), wie man Bienen hält, Glas bläst, Quecksilber einfriert und Stiefel reinigt ... für alles eben. Das Buch hat 827 hauchzarte Seiten und ist so schön gebunden, daß ich es gar nicht aus der Hand legen möchte. Selbstverständlich bekomme ich auch diesen Universalschlüssel für die Welt um 20 % reduziert.
– Schau, ich war in einem Laden für alte Bücher und habe mir das komplette Internet für die Tasche gekauft. In gewisser Hinsicht. – Nie im Leben. Sind da die Pöbelkommentare unter Spiegel-online-Artikeln drin? Nein? Dann ist es nicht das Internet.
Besuch in der geliebten alten Schachtelstadt. Davor hatte ich ein wenig Angst; zu viele kleine Städte habe ich vor die Hunde gehen sehen. Aber, Überraschung, viel Bewährtes ist geblieben, viel Neues anders gut geworden.
Diese ganze Stadt ist kariert, Kopfstein und Treppen und Fachwerk und Fensterkreuze, die Dächer darüber ein Meer von Schiefer und Ziegeln. Zwischen all ihrem Stein findet sie immer noch Platz für Gärtchen, und sei's ein Rosenstock am Hauseingang. In jedem zweiten Haus hat Luther gewohnt, Brentano gedichtet, Herder einen großen Gedanken gedacht. Erstaunlich, daß die Touristenströme nie hierher gefunden haben.
Mein liebstes Antiquariat ist noch da, die Cafés, einige Kneipen; nur die Metzger gibt's nicht mehr, die Bäckerei hat keinen Nachfolger gefunden, der Wochenmarkt stirbt. Das alles erzählt die Gemüsefrau, deren Laden vor zwei Jahren fast hätte umziehen müssen; der Vermieter hatte mehr Geld verlangt. Kurz darauf war plötzlich von Mieterhöhung keine Rede mehr, da hatte nämlich ein Stammkunde von ihr das ganze Haus gekauft.
Das Hotel, an dem ich immer vorbeigelaufen bin: schräg (ist halt 400 Jahre alt) und ein bißchen zu niedrig, aber ungenormt auf eine Weise, die mich völlig darüber hinwegtröstet, daß ich ganz nah mal ein eigenes Zimmer hatte. Ich denke an Patrick L. Fermor und seinen Gang durch das alte Europa: Hier hätte er sich höchstens über den Fernseher in der Ecke wundern müssen.
Sehr seltsam ist es, einen alten Weg zu kreuzen und plötzlich für einen Augenblick wieder zur Mensa zu gehen; und das Zurückschnappen ins Jetzt. Das ist wie angeschubst werden, Püppchen im Puppenhaus.
Einmal schütteln. Und weiter, zum Bahnhof, nach Hause fahren.
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