Daß man goldene Hochzeiten mit einer Zeremonie in der Kirche feiert, hatte ich nicht gewußt. Auch nicht, daß man, ehe man von amtlicher Seite eine Urkunde überreicht bekommt, gefragt wird, ob man das überhaupt möchte – für den Fall, daß man nur noch auf dem Papier verheiratet ist, oder daß einer krank liegt. Ein seltener Fall von Takt in Amtsdingen; in fünfzig Jahren kann, neben der Gewöhnung, viel passieren.
Das Jubelpaar gibt ein Fest und läßt sich feiern. Sie haben sich schön gemacht, eine Schönheit, die mit dem Leben zu tun hat. Wie sie da sitzen, weiß und nicht mehr ganz gerade, und Glück- und Segenswünsche entgegennehmen, müssen sie sich nicht anschauen; später, beim Tanzen, sehen sie niemanden sonst. Sie sind eigen, jedes für sich, aber zufrieden miteinander. Das, und dankbar. Es hätte einiges schiefgehen können.
Ich verstehe, daß um einen solchen Jahrestag Aufhebens gemacht wird. Im Gegensatz zu einer Heirat ist ein Zusammenleben über fünfzig Jahre, in guten wie in schlechten Tagen, keine geringe Leistung.
Ich ziehe den Hut.
Er sagt von sich, er sehe nicht besonders viel, und es scheint glaubhaft; zu seinem Blick hinter den Brillengläsern paßt in sich gekehrt. Auf seinen Wegen bleibt er nicht häufig stehen, er dreht sich kaum, bückt sich nicht oft. Nur selten spiegelt sich etwas in seinem Gesicht. Er spricht wenig von dem, was um ihn ist.
Manchmal blitzt etwas auf unter seinen sonst unscheinbaren Sätzen; man hört's, denkt, sagt: was?, und da ist es schon vorbei. Später aber kann das wieder auftauchen. Da trifft man Bilder, die man selbst vielleicht auch betrachtet hat, in seinen Worten wieder, und plötzlich sind sie zum Staunen: was er gesehen hat, ohne Aufsehens darum zu machen, ist hinter seiner Stirn zu einer Welt aus Worten gewachsen.
M. beschreibt einen Baum, eine Zugfahrt, einen Blick in ein Fenster und öffnet neue Augen, neue Welten. Mit den Dingen, die in sein Bewußtsein fallen, ist es wie mit Kieseln, die, stumpf an der Luft, unter Wasser in allen Farben leuchten.
Zwar verläuft sich der Strom der Wanderer mittlerweile – Wispertalsteig, Lahn-Camino, Moselsteig, der etwas unglücklich benamste Ahrsteig: wandern kann man überall –, doch ähnelt der Rheinsteig an manchen Tagen einer Ameisenstraße. Man reiht sich ein in den bunten Treck, erkennt Hüte, Rucksäcke, Trikots wieder und wieder, grüßt sich irgendwann, und beim nächsten Mal gebt ihr ein aus.
Anders die Entgegenkommenden: jeden sieht man nur einmal, aber sie fallen mehr auf. Einige hört man von weitem schon, und während man auf dem Weg zur Seite rückt, schaut man sich an. Mindestens kurz.
Die Leute sind unterschiedlich höflich. Manchen merkt man an, daß sie eigentlich lieber allein hier wären. Das geht mir ähnlich: mein Territorium erweitert sich, wenn ich draußen bin; die Anwesenheit anderer empfinde ich als Störung: was machen die hier in meinem Urlaub!
Ich übe mich daher in Freundlichkeit: Treffe ich Einzelne, grüße ich. Bei Gruppen sage ich der ersten in der Schlange Hallo und dem letzten, denen dazwischen nicke ich nur zu. Auf schmalen Pfaden bleibe ich stehen und lasse Ältere, Ungeübte, Erschöpfte vorbei. Läßt jemand mich vorbei, bedanke ich mich. Zwei, drei Mal habe ich Hilfe angeboten, als mir das nötig schien.
Anders als die Angewohnheit, draußen keine Spuren zu hinterlassen, ist das eine Entscheidung gegen meinen eigenen Impuls, mich wortlos in die Büsche zu schlagen. Mein Verstand sagt mir: es geht nur freundlich mit den Menschen, und draußen zu Fuß unterwegs sind wir doch alle gleich.
(Radfahrer übrigens grüßen nie; die Ausnahme zu dieser Regel muß mir noch begegnen.)
Und wenn ich heute auch nur über ein weiteres Blog mit Abnehm-, Mode- oder Schminktips stolpere, dann wird mir schlecht.
Als hätte die Welt keine drängenderen Probleme.
Es ist zwei Jahre her, da fragte mich das Kind, gerade fünf geworden, ob ich reich sei, und ich sagte sofort und voller Überzeugung: ja! Das Kind machte große Augen und wollte wissen: Dann hast du ganz, ganz viel Geld? Da mußte ich dann doch lachen, halb über die Frage, halb über mich, und erklärte uns beiden: Ich habe jeden Tag zu essen, ich habe ein schönes Zuhause, so viele Geschichten, wie ich lesen will, ich kann hin, wo ich möchte, und alle meine Lieben sind in der Nähe. Das haben nur ganz wenige Menschen auf der Welt. Also bin ich reich.
Das Kind dachte kurz nach und sagte dann zufrieden, an seine Mutter gewandt: Ach, dann sind wir ja auch reich!
Mit sechs wollte das Kind wissen, woher das komme, daß man neidisch ist. Wir kamen zu keinem Ergebnis; aber das ist bekanntlich auch ein Ergebnis.
(Es ist dasselbe Kind, das mich vor kurzem mit der Frage überraschte: Man darf doch keinen zwingen, etwas zu glauben, nicht?)
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