Die Definition von Unglück ist einfacher als die von Glück. Vielleicht ist das der Grund, warum so viele Menschen so viel mehr von ihrem Unglück reden.
Um sich selbst kreisen und sich im Weg stehen, sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf ziehen, den Staub von den Sohlen schütteln. Irgendwas geht immer.
Zum Glück muß man wohl ein großes Talent haben; zum Unglück womöglich noch größeres.
Soll bloß keiner denken, er wisse, wie die Façon aussieht, nach der ein anderer glücklich zu werden habe.
Schenken ist oft so viel leichter als annehmen. Aber was muß ein Mensch erlebt haben, der in jeder Gabe ein Gift vermutet?
Und mit Ansprüchen und Erwartungen ... ach, fangen wir gar nicht an damit. Immer diese meine Marotte, verstehen zu wollen. Als würde das glücklich machen.
Die Wirtin, die auch mit zwei neuen Knien und einer neuen Hüfte nicht aufgibt. Mit dem Rollator pendelt sie lächelnd zwischen Küche und Gastraum, Geschirr und Besteck und selbstgekochte Marmelade vorn im Transportkorb. Wer hätte da das Herz, sich wegen einer nicht ganz sauberen Tasse zu beschweren?
Die Lehrerin, die bei jedem Fehler sagt: macht doch nichts!, und der größte Fehler wäre, ihr das abzunehmen.
Der alte Mann, der seine Besitztümer auflistet, mit Kaufpreis und Anschaffungsdatum. Er kann die Listen nicht mehr lesen, er kann nicht einmal die Dinge sehen, die er zittrig notiert. Er ordnet und ordnet und ordnet, und ich weiß nicht, ob ich verstehen will, wieso.
Die Frau, die mitten in der Stadt das einzige Grün beackert, das es für sie gibt: die Baumscheibe zwischen den Parkplätzen vorm Haus. Gartenblumen hat sie darin, nichts Eßbares – die Hunde; manchmal klingelt sie und bittet, man möge ein Auto etwas zur Seite fahren, damit sie jäten kann. Dann beschließt die Stadt: Sanierung. Die Straße wird aufgerissen, die Bäume fallen, und das kleine Beet mit den eben erblühten Tagetes: weggebaggert. Die Baumscheibe soll einen Deckel aus Metall bekommen, gegen die Hunde.
Das kleine Mädchen, das in Müdigkeit und Bedrängnis nicht nach einem Stofftier jammert oder einer Kuscheldecke, sondern nach: ein Buch, ein Buch!
Der waschechte Ingenieur, Ingenieur und nichts als Ingenieur, der die Welt zerlegt und repariert und dem Poesie so nutzlos wie ein Kropf erscheint – und der dann so ein zartes, schönes Ding sagt über Spatzen, so schön, daß es mir den Atem verschlägt. (Und das vergessen zu haben ich mich gräme.)
Nichts arg wichtig nehmen.
Wie schwierig es ist, über etwas zu schreiben, wovon jeder eine Meinung hat oder zumindest ein Bild im Kopf. Die Lösung: einfach immer völlig neue, nie dagewesene Dinge erzählen.
Bißchen was hinschreiben, und dann: streichen, straffen, kürzen, verdichten.
Den Laden gibt es seit Jahrzehnten, ein heimlicher Dorfplatz inmitten der Stadt: hier kennt man sich bis ins dritte Glied. Frau F. leitet die Geschicke des Geschäfts, lächelnd und mit fester Hand, und Herr F. macht die Technik. Er kann das; er kann alles, was mit Maschinen zu tun hat. Im Iran war er Pipeline-Ingenieur oder wäre es geworden, wenn ihm nicht die Politik dazwischengeraten wäre.
Herr F. ist ein Bilderbuch-Perser. Immer trägt er Weste, zugeknöpft. Mähne und Bart sind mittlerweile beinah weiß. Er ist stolz auf das, was er geschafft hat: Flucht mit Frau und Kindern, Deutschkurs, Weiterbildungen und Arbeit, Arbeit, Arbeit. Und natürlich dieses Geschäft, dessen zusammengewürfeltes Inventar er in Betrieb hält mit Schraubenschlüsseln und Erfindergeist.
Sein Akzent singt und hat diese dunkel gefärbten as, die ich so gern höre. Oft sagt er Sätze, in denen mein Herz vorkommt oder meine Seele, aber nur, wenn kein Fremder dabei ist. Bei traurigen Geschichten poltert er: nun, jeder ist seines Glückes Schmied, Leben ist grausam, mal geht es so, mal anders; doch Stunden später noch hört man ihn seufzen.
Die Bitterkeit ist ihm nicht fremd. Was alles hätte werden können, und die Ohnmacht; keine Schikane hat er vergessen, keinen Beamten, keinen Vorgesetzten, der ihm je das Leben schwer gemacht hat. Herr F. hat ein langes Gedächtnis. Immer noch sagt er: bei uns im Iran.
Dennoch, das Lachen liegt nur einen schlechten Witz entfernt, und es ist zuverlässig ansteckend. Diesem dröhnenden, tiefen Lachen von Herrn F. könnte sich höchstens eine Maschine entziehen. Wenn überhaupt.
Allmählich denken sie ans Aufhören, die F.s; irgendwann muß es gut sein. Ich schaue mich im Laden um, betrachte die Museumsstücke, die hier Arbeiten aller Art verrichten und deren Mechaniken stillestehen werden ohne die ständige Zuwendung von Herrn F.; ich sehe die Kunden, deren Unterlagen, Abschlußarbeiten, Lebensläufe hier verwaltet werden seit Generationen und deren Aufträge aus zwei, drei Worten bestehen: wie immer, bitte!, ich denke an büschelweise Geschichten und ahne tausend mehr und merke, wie sie selbst langsam zu Geschichten werden, die F.s und ihr Fotokopiergeschäft im Herzen der Stadt. Ohne sie wird es nicht mehr dasselbe sein.
Der Himmel ist hier schon nördlich; die Nacht verspätet sich und erreicht kaum den westlichen Rand des Landes. Es ist schön, dieses Land, doch nah kommt es mir nicht.
Ins Grün und Gelb des gewohnten Fernblicks mischt sich Blau, blau wie fern, wie Ferien, wie Himmel auf Erden. Die Stadt sitzt, ein spitziger Fleck getrockneten Bluts, inmitten von Wasserflächen wie Quecksilber und Vergißmeinnicht.
Ich habe mein ganzes Leben nicht so oft „Schöne Pfingsten“ gewünscht bekommen wie in diesen beiden Tagen im Osten der Republik.
Am Bahnsteig stehen zwei Studenten; sie kommen von einer Familienfeier. Einer liest laut ein Plakat: Giu...seppe, Giuseppe Verdi! Am vierten! – Ach, spielt der hier? – Nee, eine Oper von ihm. – Der ist doch auch schon tot, oder? Zumindest nicht mehr der Jüngste. – Wollte ich immer schon mal hören; da kommen wir wieder, ja?
Einer rührt mich; unterm Arm trägt er ein fleckiges Kopfkissen, und zwischen dem Wischen auf seinem Telefon gräbt er immer wieder die Nase hinein.
Lektüre in der Bahn: Meckel, Licht, dieses schmale Bändchen, das sich vor zwölf Jahren nicht und nicht fertig lesen ließ. Heute ist das Traurige in den Hintergrund getreten; ich staune vor der wunderbaren Sprache, vor dem genauen Blick des Erzählenden auf die Liebe, der ihr doch alles Geheimnis läßt.
Und, schade, doch kein astronomischer Service an Bord des Zuges.
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