Aus dem Zugfenster sehe ich, wo die Mauersegler hin sind: die sausen schwarmweise eine Flügelspanne über dem Fluß und fangen aus der Luft, was sonst den Fischen zufällt.
Auf dem Bahnsteig Raubvogelgefühl, und tatsächlich kreist da ein Falke zwischen den Hochhaustürmen, strebt den Leuchtbuchstaben einer Hotelfassade zu und landet auf dem F. Hier wohnt er wohl; das F trägt weiße Streifen.
Spätabends, gerade ist noch Licht, lasse ich mich von Rotkehlchen und Zaunkönig in den Schlaf singen.
(So vor dreißig, vierzig Jahren wäre dieser Frühling nix Besonderes gewesen; im Bauernkalender stand: Mai kühl und naß füllt dem Bauern Scheun’ und Faß.)
Nachts höre ich Zugvögel über der Stadt, es müssen viele sein und in großer Höhe. Tags sind es die Flugzeuge, nun fast wieder im Minutentakt. (War das schön ruhig im letzten Jahr.)
Sonst ist nicht viel los auf dem Marktplatz, vielleicht wegen der Feiertage, vielleicht wegen der Sturmwarnung für heute. (Auch das ein Pandemiegewinn: längere Schlangen auf dem Wochenmarkt, normalerweise. Viel mehr Kundschaft.) T und ich trinken unseren Kaffee im Nieselregen, wir sind wetterfest, nur die Tassen muß man zudecken. T erwähnt einen Fernsehmoderator, der immer grenzwertig gutgelaunt sei: Ich habe nichts gegen gute Laune, wenn sie einen Grund hat! – Er weiß fast sofort, warum ich lospruste.
T hat die erste Impfung bekommen. Man merkt es. Eine Sorge weniger, was?, sage ich. – Naja. Eine halbe.
Aber ja, doch. Nun kann es wirklich besser werden.
Das Dach des Schirms hätte sie mir fast verborgen, aber ihr vielstimmiges Schrillen zog meinen Blick in die Höhe. Während ich ihre kreiselnden Silhouetten zwischen den Wolkenschleiern verfolgte, nahm ich feierlich eine Mütze Regen: die Mauersegler, sie sind wieder hier.
Das spätlateinische Wort für arbeiten, trepaliare (frz. travailler, span. trabajar), stammt vom trepalium, einer Vorrichtung aus drei Pfählen, an die Sklaven zur Strafe gekettet wurden.
In meinen ersten Lebensjahrzehnten habe ich hübsche Notizbüchlein gekauft und gehortet, ohne je etwas hineinzuschreiben; ich hatte ein gutes Gedächtnis. Die kann ich in den kommenden Jahren aufbrauchen.
Eine Schwalbe habe ich gesehen, die stemmte sich überm Fluß gegen den Wind. Die Mauersegler lassen auf sich warten.
Die Apotheke um die Ecke: vor ein paar Jahren feierte sie 250-jähriges Bestehen, Ende letzten Jahres machte sie zu; man finde keinen Nachfolger, sagte der Chef, der die Ablöse bezahlen wolle für ein zwar traditionsreiches, doch heutzutage unsicheres Geschäft. Nun steht der Laden, als wäre ewiges Wochenende, Staub setzt sich, die Deko in den Schaufenstern wird blasser, die Lichter bleiben aus. Vielleicht wird in 250 Jahren hier jemand aufschließen und ein Museum unserer heutigen Vorstellungen von Gesundheit und Wohlergehen vorfinden.
Ich weiß nicht; gibt es dieses Jahr weniger Vögel, oder werde ich tauber?
Das Regal voller geschenkter Gläser, alle fünfzehn Jahre alt und älter: Apfel und Kiwi, Erdbeer 2004, Pflaume-Zimt oder Pampelmuse; ungeöffnet, manche noch mit einem Stoffhäubchen auf dem Deckel oder Schleife – ich werde sie nicht mehr essen, nicht mal die, die vielleicht noch brauchbar sind. Ich werde sie nicht einmal mehr aufmachen. Von jetzt an geht jede Woche der Hausmüllsack ein bißchen schwerer in die Tonne, mit einem süßen Herzen aus alter Marmelade.
(Ich möchte nicht sein wie R, der in einem Schrank in seinem Büro sämtliche Werbeblättchen stapelte und alle Bäckertüten, die er auf seinen Wegen zur Arbeit kaufte.)
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