Angesichts einer Horde tobender Jugend vorm Museum bemerkt T.: Vierzehn, das war auch kein schönes Alter. Immer dieser Ansturm der Gefühle, wie bei Romeo und Julia: Wo ist mein Schwert? Wo die Phiole mit dem Gift? Wie schreibt man Phiole?
Dann zählt er auf, wie viele seiner Altersgenossen die Pubertät nicht geschafft haben. Erstaunlich viele Schußwaffen kommen vor; und Autos und Motorräder, natürlich. Ich merke, wie wenig mir Liebeskummer als Grund einleuchten will.
Einer habe eine Kassette hinterlassen mit Abschiedsworten, aber genau in den Sekunden nach dem "weil" sei ein Trecker vorm Haus vorbeigefahren, und man habe nichts weiter verstanden. (Das zumindest hätte die Familie behauptet.)
T., drohe ich, wenn du deine Geschichten nicht aufschreibst, dann mache ich das.
In die alte Heimatstadt fahre ich immer noch mit einem Phantomschlüssel in der Tasche; dabei ist die Wohnung natürlich längst neu vermietet. Andere Läden in der Straße (keine Verbesserung), die Bäume kränkeln, ein bißchen schäbig sieht es aus. Das habe ich früher wohl liebevoll übersehen.
Unterschlupf finde ich bei M.s im Geschäft. Er ist gebeugter als beim letzten Mal, sie so zart geworden, man schließt die Ladentüre mit Behutsamkeit. Die Angestellten sind jetzt allesamt in Rente. Ich bekomme Kuchen, ein Weihnachtsgeschenk und die Neuigkeiten. Sie seien jetzt eine Sehenswürdigkeit: junge Leute brächten ihre Eltern her, um ihnen dieses Geschäft zu zeigen.
Fragen, wie es ihnen geht, weichen sie elegant aus, aber ich kann es mir denken. Ich leiste mir ein paar wunderschöne Dinge und wünschte, ich bräuchte mehr.
Auf dem Heimweg, der sich erst ab der Mitte wirklich wie Heimweg anfühlt, lese ich: Gottfried Keller, Sieben Legenden. Eine Zumutung.
Ich dachte, ich könnte ganz gut auch ohne leben. Nun warte ich aber seit Wochen auf blauen Himmel, darauf, daß die Fassaden gegenüber aufstrahlen; dann schlüpfe ich in den Mantel. In der letzten Zeit nutzt das nichts: die Wolkenlücken zu schmal, die Straßenschluchten zu tief.
Im Wald, beim zugigen Imbiß auf einem Stapel Holz, bestand mein Hirn darauf, in den Holzfällerzeichen auf den Stämmen in Neon-Orange Lichtflecken zu sehen, zusammen mit einigen verblichenen Buchenblättern am Boden und einem faulenden Ast. Jedes Mal, wenn ich mit den Gedanken anderswohin schweifte, hüpfte mir kurz das Herz: Sonne! – Ach nee, Markierungsfarbe.
Und das Beste an der Wanderung? Ich habe, fast eine halbe Stunde lang, schließlich doch einen Schatten geworfen.
Bei manchen Briefen finde ich es schade, daß man Briefmarken nicht mehr anlecken muß.
T. erzählt von früher. Von der Bäurin, die sich in dreißig Zentimeter Bach ertränkte; von dem Selbstmörder, den er bei einer Nachtfahrt im Straßengraben fand (ein Stückchen weiter lag der Motorblock auf der Fahrbahn) und von dem Besoffenen, den Freunde nach einer Party vor der Haustür abgeladen hatten, der aber gar nicht schlief, sondern tot war, Schädelbruch. Geschichten vom Lande.
Sein Großvater, sagt T., habe immer die Tageszeitung beiseite gelegt mit den Worten: Jo, jo. Mer meent alls, es kennt nimmeh lang daure.
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