Ein Stein hat sich auf die Reise an die Nordsee gemacht. Mitfahrgelegenheit bietet ihm, in einer Satteltasche, Irgendlink auf seinem Weg nach Rotterdam. Den Stein hat mir die Ostsee am Strand einer dänischen Insel vor die Füße gelegt. Heißt nichts, und doch: auf natürlichem Wege wäre dieser Hopser in der Geographie wohl kaum geglückt.
Wir müssen heute raus von null bis vier ... B. antwortet: Klingt komisch, ist aber so. – Damit wäre das geklärt. Machen wir also Ausguck, zu zweit, daß keiner einschläft, und reden, leise, daß keiner aufwacht.
B. hat Beruf und Ehrenamt, teilt mit Freunden einen Schrebergarten und kocht leckere Sachen, die er in Portionen einfriert. In seiner Berufung sieht er Dreck und Pech und Tod und Leute, die statt danke sagen, na, da hatten Sie wenigstens was zu tun diese Nacht. Mit der Welt ist er nicht zufrieden, da fehlt es ihm an Ethik, an Zusammenhalt. Er aber scheint beschlossen zu haben, zufrieden zu sein mit dem Leben.
Beim Segeln bekommt er den Kopf ganz aus dem Alltag. Stunden an den Horizont schauen oder, wie jetzt, die Sternbilder betrachten, wann sonst hat man die Muße? Für ihn ist Glück kein teures Geschenk. Man muß es nur sehen. Und man muß es lassen.
Nach B. würde sich keiner umdrehen; nicht auf den ersten Blick. Das kommt erst später, und schleichend, daß man sich besser fühlt, wenn man seine Gestalt im Raum geortet hat.
Zum Abschied nehmen wir uns herzlich in den Arm. Im stillen wünsche ich ihm, daß er wiederbekommt, was er so selbstverständlich gibt.
Mein Herz ist weit, da paßt ein ganzer Dreimaster hinein mitsamt 292 m² Segelfläche. Ich reise zum zweiten Mal mit der Albatros.
Es herrscht das rollierende Wachsystem: von null bis zwölf Uhr vier, von zwölf bis null Uhr drei Stunden pro Schicht; zu jeder dritten Wache werde ich geweckt. Zwei Toiletten für 22 Leute, Duschen im Hafen. Die Kojen sind schmale Bretter in Schlafschränken; in meine regnet es hinein, das Tropfwasser ist schwarz. Ich schlafe wie ausgeknipst unter dem Hilfsmotorröhren. Jede der viereinhalb Mahlzeiten verschlinge ich wie ein Wolf. Dazu Muskelkater, blaue Flecken, Schwielen, Sonnenbrand.
Dieses Mal ist alles einfacher: Andirken, Piek zusammen mit der Klau heißen, belegen, aufklaren. Rein Schiff. Backschaft. Ich liebe die Stunden als Rudergängerin; das Schiff knarrt im Wind, das Steuerrad zittert von der Strömung. Ich lerne und lerne. Einmal habe ich den Orion im Klüvernetz, das Schiff macht gute fünf Knoten, und die Welt ist rund. Überhaupt, der Himmel voller Sterne.
Am Ende kenne ich vor allem Menschen: den Steuermann von Mitte siebzig, der meine Fragen oft mit einem Stirnrunzeln beschweigt und der mir zum Abschied seine Lederhose schenken würde. B., der gelassen sagt: sind halt alles Menschen, und das wirklich genau so meint. A. mit dem dröhnenden Lachen, der mir von seiner Verletzlichkeit erzählt. U., die sich nicht und nicht verbiegen kann. Und all die anderen.
Es bleiben der Seegang, der mit mir heimgekommen ist, Gestank nach verrottendem Schiff in allen meinen Kleidern, unendlich viele Geschichten und Sehnsucht nach Segelsetzen. Wer hätte gedacht, daß ich mich noch einmal so verlieben könnte.
H., immer gut für Antworten, sagt: natürlich sind Verschleierungen Frauenunterdrückung, und als ich schon tief Luft holen will, fährt er fort: genau wie amerikanische Serien auch, überhaupt diese Ideale von Weiblichkeit. Verbote seien unter der Würde einer freiheitlichen Gesellschaft, aber Nachdenken wäre schon mal angebracht.
Beim Wandern dem Sonntagsläuten erlegen. Ich weiß nicht, wie viele Menschen hier noch zum Gottesdienst gehen, aber sämtliche Kirchtürme, die hochgotischen wie die dörflichen, evangelisch und katholisch gleichermaßen, erfüllen die Täler der Gegend mit Jubel. Für mich ein Kindheitsklang, und die Gewißheit: ich könnte in irgendeinen Gottesdienst spazieren und mitfeiern und würde mich nicht ganz fremd fühlen dabei.
Später bin ich dann doch wieder außerirdisch: wo kommen Sie her? Ah, dann parken Sie an der Hauptstraße? Ach, mit dem Zug ... nein? Wie? Zu Fuß?? – Das scheint immer eine Rechtfertigung zu fordern, dabei mache ich das ja nicht, weil ich muß, sondern weil ich's kann.
Die Bänke am Fluß sind nicht bloß besetzt, sondern umlagert; Leute stehen davor, stützen sich von hinten auf die Rückenlehne. Alle Bänke bis auf eine: darauf sitzt eine einzelne Gestalt mit lackroter Haut, von der Schuppen schneien, und kratzt sich mit beiden Händen. Der Wind trägt einen medizinischen Geruch herüber. So viel Platz hat hier niemand sonst.
Mit V. haben wir vor hundert Jahren mal auf der Bühne gestanden, das Stück war von T., V. machte Musik, und bei der Schlußverbeugung hatte ich mir die bloßen Füße an Glasscherben zerschnitten, oben Lächeln, unten blutige Abdrücke. Danach hatte V. ein paar Jahre lang meine Posaune, aber das ist eine andere Geschichte.
T. und ich treffen V. beim Kaffeetrinken, zufällig, V. hat heute ausnahmsweise frei. Sein Töchterchen hängt wie eine Klette an ihm; er füttert sie mit Fleischwurst, bis sie einschläft und er sie in den Kinderwagen legen kann.
Wir flachsen, als wäre die letzte Probe nicht ein paar Jahrzehnte her, und suchen aus den Augenwinkeln in den Gesichtern nach Spuren unserer krummen Wege; das ist anders als damals, da standen wir alle am Beginn einer langen, geraden Bahn.
Nach einem halben Stündchen lasse ich T. und V. allein; ich habe zu tun. Im Davongehen grinse ich; bestimmt reden sie jetzt über Mädchen. Wie man sie am besten zu Bett bringt und was man macht, wenn sie keinen Mittagsschlaf mehr wollen.
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