Das Mädchen mit der Blondmähne sitzt ganz still und hält sich gerade, wenn die Tram in die Kurven geht. Der Junge daneben paßt gut zu ihr; er hat den Kopf auf ihre Schulter gelegt, sein bartloses Gesicht ist ganz weich im Schlaf. An der Endstation steigen beide aus und gehen davon, allein miteinander auf einem leichteren, stilleren Pfad im Stadtgewühle.
Im Bahnhof habe ich Zeit unter Massen von Menschen mit prallen Weihnachtseinkaufstüten. Ein Mann fällt mir auf, bebrillt und in verbeultem Anzug, der jemanden grüßt mit einer fließenden Bewegung der Hand zu Stirn und Brust; mit mir hat das nichts zu tun, doch die Schönheit dieser Geste nehme ich dankbar auf.
Am Bahnsteig spricht mich einer an, schwankend, aber zuversichtlich, er sei so scheißbetrunken, wo er denn hinmüsse? Viele, viele Zettel kramt er aus den Taschen, bis es endlich der Fahrschein ist; scheiße, er wisse nur noch, daß sein Name Gottfried sei. Laut und langsam: ein Gleis weiter, eine halbe Stunde warten. Und gleich noch einmal. Fährst du auch mit meinem Zug?, fragt er hoffnungsvoll, aber nein, da kommt schon meine Bahn. Er schüttelt mir wärmstens die Hand. Ich sähe so, so intelligent aus, was ich denn für einen Beruf habe? Ich sage ihm etwas, von dem ich annehme, daß es im aktuellen Zustand in sein Hirn paßt, da steht er ein Weilchen still. Zum Abschied siezt er mich. Ich wünsche ihm einen guten Heimweg; Gottfried winkt mir hinterher, dann spricht er den nächsten an.
Im Großraumwagen schließlich Ruhe. Ich lese ein Buch übers Bahnfahren. Kein Kaffee, danke. Die Nacht kommt früh; ich will sie heute in aller gebotenen Müdigkeit begrüßen.
Er hat seinen Alltag so gestaltet, daß er täglich schreiben kann, in der Frühe, wenn die Welt noch schläft.
Schreiben würde er ohnehin, wie er ja auch atmet. Aber er braucht Zeit für seinen Roman, an dem er kontinuierlich arbeitet. Er spricht wenig bis gar nicht darüber, und gezeigt hat er ihn noch niemandem.
Er macht, was er will. Für Geld arbeitet er eben so viel, daß es zum Leben reicht. Seine Zeit ist ihm der Luxus, den er braucht. Er verkauft sich nicht. (Manchmal fragt er sich, um welchen Preis.)
Kleine Texte greift er so aus der Luft, oder sie fallen ihm gleichsam aus den Taschen, funkelnde Zeilen voller Bilder und Musik.
Nein, gern schreibt er nicht, sagt er. Was er liebt: geschrieben haben.
Eine häufige Frage auf seine Antwort, er sei Schriftsteller, laute: ja, und was machst du da so die ganze Zeit?
Wenn er schreibt, liest er nicht. Da er meist ein Buch fertigstellt und währenddessen schon mit Skizzen für das nächste beginnt, liest er überhaupt nur wenig, gar nichts auf Englisch und nur Dinge, die ihn sprachlich und inhaltlich möglichst wenig beeinflussen können.
Der Zweifel: vielleicht sei das neueste Buch doch zu sehr auf das ausgelegt, was die Leute lesen wollten ...
Und das Thema "Buchkritik" besser meiden. Nicht wegen etwaiger Verrisse, nein, wegen der Amazon-Kundenrezensionen.
Er würde ja manchmal gern etwas ganz anderes erzählen und hätte da auch ein paar Sachen, aber sein Name sei ja nun so etwas wie eine Marke. Vielleicht unter Pseudonym, dann müßte er sich aber wieder ganz von vorn aufbauen ...
Du hast's gut, du kannst vom Schreiben leben.
Ich mag es nicht, auf Verkehrsmittel angewiesen zu sein. Aber um die meisten Städte lagert ein Ring von öden Vororten, riesigen Parkplätzen, Industrie und Gewerbe, und die Einfallstraßen haben keine Fußwege. Die letzten Kilometer am Rande der Stadt sind kein Abenteuer, sondern eine Fleißaufgabe; alle Wege sind lang, alle Ausblicke langweilig, eben für Autofahrer gemacht. Für Fußgänger bedeutet das Umwege – oder Risiken; Abkürzungen sind oft Sackgassen.
Der ältere Herr, den ich nach dem Weg hinaus frage, denkt wie ein Autofahrer. Wo wollen Sie hin? Nach S.? Das sind aber 30 Kilometer, mindestens! (Es sind sechzehn.) Da gehen Sie am besten über L. ... (Das wäre ein Umweg von zweieinhalb Kilometern.)
Ich finde meinen Weg mehr nach Sonne als nach Karte, und das gefällt mir gut. In den Feldern ist der Blick plötzlich unbegrenzt. Menschen sehe ich schon in weiter Entfernung, aber wir ziehen aneinander vorbei, ohne uns zu begegnen, wie Schachfiguren oder wie Planeten.
Im Neubaugebiet am wuchernden Dorfrand von N. bremst ein riesiges Auto für mich. Auf Schanzhügeln aus Gabionen stehen hier Häuser im Haziendastil, in schwedischer und schweizerischer Art; es scheint, der deutsche Mittelstand wolle unbedingt anderswo wohnen. Man hat zwei Garagen und eine Ladung Kies als Vorgarten. Der alte Dorfkern wirkt verödet, eine Durchgangsstraße mit Sparkasse und Supermarkt, kein Gasthaus.
Dann kommt noch ein herrliches Stück Wegs, ein Anstieg wie eine Treppe in die Wolken. Ich denke über mein Unbehagen nach, nicht hinaus zu können, nicht zu Fuß raus aus der Stadt, abgeschnitten zu sein von der Welt. Meine Welt ist weit. Was ich gegangen bin, gehört mir.
Sechs Stunden bin ich gelaufen; die Rückfahrt mit der Bahn dauert 30 Minuten. Der Himmel bauscht sich blutrot und golden, eingerahmt von den Gummidichtungen der Zugscheiben.
Jedes Heute ein wenig kürzer als gestern noch: die Dunkelheit gewinnt, und mit der Dunkelheit kommen die Erinnerungen. Es wird still. Die Aufmerksamkeit richtet sich nach innen. Vergangenes und nie Gewesenes scheinen klarer als das, was sich in den kurzen hellen Stunden drängt.
Wir können das wohl nicht mehr gut vertragen. Die Stadt lärmt und prangt im Überschein; ich ducke mich unter dem Ansturm der Kauf!-Appelle und werde selber immer finsterer dabei.
Man müßte nachdenken, gründlich nachdenken. Ich wünsche mir eine Decke aus Schnee und darunter einen warmen Raum aus Ruhe für den Winter.
Nächste Seite